Niemand ist eine Insel (German Edition)
Mensch einem Arzt ausgeliefert ist und sein wird. Unter solchen Voraussetzungen muß man vom Arzt die höchste Ethik verlangen! Jeder Arzt könnte vieles tun, was ihm niemals nachzuweisen wäre, das wissen Sie.«
»Ja«, sagte ich und sah zu Babs, die auf diese schreckliche Weise atmete.
»Also muß der Arzt seine Verpflichtung gegenüber den Menschen in sich tragen«, sagte Ruth Reinhardt. »Das soll nicht heißen, daß jeder Arzt dazu imstande ist. Es gibt auch unter anderen zu höherer Ethik verpflichteten Gruppen schlechte Menschen – unter Staatsanwälten, Politikern, Pfarrern etwa. Also warum nicht auch unter Ärzten? Ist das logisch?«
»Das ist logisch«, sagte ich und dachte, wie Logik und klares Denken die Angst bannen können. Meine Angst, zum Beispiel. Sie war sehr groß gewesen, als ich heute in die Klinik gekommen war. Sie war noch immer sehr groß – aber nicht mehr ganz so groß.
»Es ist logisch, und es ist schrecklich«, sagte Ruth Reinhardt. »Ich sage Ihnen, Herr Norton, es gibt keine noch so schöne Ideologie, die vom Menschen nicht mißbraucht wird. Schwache und schlechte Charaktere unter den Ärzten – auch unter Sozialarbeitern, Psychologen oder Soziologen – nützen das Problem der geschädigten Kinder aus, um sich zum Beispiel rasch ins Licht zu setzen, indem sie sich – scheinbar – mit ungeheurem Idealismus für jene Kinder einsetzen. Ich kenne übelste Fälle von Ärzten, die, einmal im Licht, beispielsweise Eltern etwas von ausländischen Präparaten erzählten, die Unsummen kosteten, aber sichere Besserung bringen sollten – und das bei absolut hoffnungslosen Fällen, und jene Ärzte wußten das! Sie betrogen die verzweifelten Eltern, sie logen ihnen etwas von Besserung vor, und sie verdienten Vermögen auf diese Weise. Das gibt es auch, Herr Norton. Ich kenne schlechte und mittelmäßige Ärzte und sogar gescheiterte Existenzen, die auf diese Weise hochgekommen sind und die nun verehrt werden wie Götter. ›Sozial‹ sein und ›human‹ sein kann in unserer Zeit viel Geld einbringen oder zu Titeln, Ehren und Macht führen.«
»Sie haben selber gesagt, auch Ärzte seien nur Menschen.«
»Stimmt«, sagte Ruth Reinhardt. »Doch der Arzt nimmt eine Sonderstellung ein. Der Arzt ist zur Erhaltung und Verlängerung des Lebens und zur Bekämpfung des Leidens verpflichtet. Je mehr er politischen Einflüssen oder gar politischem Zwang ausgesetzt ist – wie es zum Beispiel unter den Nazis der Fall war –, desto höher ist seine Verpflichtung, sich ausschließlich an den Hippokratischen Eid, an den er gebunden ist, zu halten.« Nun sah Ruth Reinhardt mich an. Sie sagte sehr klar und deutlich: »Ein Arzt darf also unter keinen Umständen töten. Der Eid des Hippokrates und, wenn Sie wollen, religiöse Gebote – wie das fünfte biblische – verpflichten jeden Arzt außerdem bedingungslos dazu, an keiner Art von Tötung auch nur mitzuwirken – und wenn er es mit dem schlimmsten Wasserkopf, dem ärgsten Spastiker zu tun hat. Er muß Leben erhalten. Er darf nicht töten.« Sie sprach nun mit wachsender Leidenschaft. »Wenn es jemals ein Gesetz geben sollte, das den Arzt zwingt – oder es ihm erlaubt –, den Hippokratischen Eid zu verletzen, dann sind den Folgen keine Schranken gesetzt! Nach allen religiösen und philosophischen Prinzipien darf kein Mensch jemals der Tötung eines anderen Menschen zustimmen.«
Mein Herr Richter, ich schrieb eingangs in dieser Beichte über meine Erlebnisse, daß sie mich mit jenen im Dunkeln zusammenbringen sollten, die unermüdlich, immer aufs neue verzweifelnd, immer aufs neue Mut fassend, ihre Arbeit tun, ihr Leben hingeben für das Leben anderer. Ich schrieb, daß ich meinen Bericht abfassen mußte, nachdem ich jene Menschen kennengelernt habe. Vielleicht beginnen Sie zu verstehen, was ich damit meinte. Daß ich einen dieser Menschen, diese Frau Dr. Ruth Reinhardt, diese stille und kluge Helferin im Dunkeln, dann auch noch im Dunkeln jene Worte sagen hörte, die ich eben aufschreibe, ist kein erfundener Effekt – es ist, wie alles in diesem Bericht, die Wahrheit .
»Die einzige zulässige Euthanasie im Sinne des Wortes«, sagte Ruth Reinhardt, die Hände nun fest gegen die-Brust gedrückt, »ist Sterbehilfe. Das heißt, daß der Arzt einen hoffnungslos Leidenden, der furchtbare Qualen durchmachen muß, einen Kranken, der nur noch mit dem Tod kämpft, daß er einen solchen Menschen von seiner Qual befreit – auch wenn dies
Weitere Kostenlose Bücher