Niemand ist eine Insel (German Edition)
außen hin propagandistisch nicht auszuwerten ist! Ja, Hilfe für Äthiopien, das bringt Schlagzeilen! Staudamm in Indien! Bringt auch Schlagzeilen! Das, Herr Norton, ist das Verhalten der Rechten!«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Ach, Sie verstehen erst die Hälfte. Jetzt reden wir von der Linken.«
6
D ie Linken«, sagte Ruth Reinhardt, »das sind Menschen, die sich oft ihrer proletarischen Herkunft schämen. Sie haben nie Anschluß an den bürgerlichen Mittelstand gefunden, dem sie insgeheim angehören möchten – manche auch der piekfeinen Schicht. Ein seltsames Schwächezeichen! Diese Leute haben doch überhaupt keinen Anlaß zu Minderwertigkeitskomplexen! Sie sind klug. Sie sind begabt. Sie haben die Macht. Sie regieren! Warum kann nicht jeder Mensch heute mit Stolz sagen: Ich bin Sohn eines Arbeiters, ich bin Sohn eines Bauern? Sehen Sie, wir haben hier, am Hospital, einen weltbekannten Professor – sein Vater war Schrankenwärter. Was soll denn da im zwanzigsten Jahrhundert noch irgendein Minderwertigkeitskomplex?«
»Schlecht«, sagte Babs.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat ›schlecht‹ gesagt«, sagte ich.
Die Ärztin strich über die Schulter des Kindes.
»Nun ja, und weil das so ist und weil diese Linken sich irgendwie schwach fühlen, propagieren sie den Schutz von schwachen Gruppen – um jene Schicht, die sie gleichermaßen verachten und beneiden, anzuklagen! Das ist der psychologische Hintergrund. Ein solcher Funktionär denkt natürlich in Wirklichkeit nicht: Diese rechten Schweine wollen geistig behinderte Kinder töten! Sondern er denkt: Ich habe rote Haare und bin kleinwüchsig, und mich mögen sie auch nicht! Aber das darf ich nicht sagen, über mich darf ich nicht reden – reden darf ich über die Behinderten, zum Beispiel über hirngeschädigte Kinder! Und so wird das Ganze ein Politikum, verstehen Sie?«
Ich nickte.
»Die Klagen, daß man geistig behinderten Kindern Hilfe versagt, kommen gleichermaßen aus Ländern mit Links- wie mit Rechts-Regierungen. Und das ist die Tragödie!«
»Mir ist schlecht«, sagte Babs verblüffend klar. »Herr Doktor …«
»Haben Sie mir folgen können?«
»Ja«, sagte ich.
»’s wär’ mir nicht so schlecht, wenn ich der Doktor wär’«, sagte Babs. Dann knirschte sie wieder mit den Zähnen.
»So ist das«, sagte Ruth Reinhardt. »Rechts und Links, Schwarz und Rot – sie sind alle gleich, und sie sind alle Opportunisten. Und das ist das große Unglück bei dieser Sache: Alles Leid trifft – hier wie dort – die armen kranken Kinder, denen in Wahrheit die einen nicht helfen wollen und denen die anderen nicht helfen wollen. Ein Politikum – selbst daraus!« sagte sie. »Die Linken propagieren den humanen Gedanken – gegen die Rechten. Die Rechten verschweigen den humanen Gedanken – gegen die Linken. Geschehen – geschehen wird von beiden Seiten nichts. Die Linken könnten mit einer einzigen Gesetzesnovelle das Problem lösen und tun es nicht – ebensowenig, wie es die Rechten tun. Was ist die bittere Wahrheit? Sie sieht so aus: Die behinderten Kinder können nur betreut und erzogen und behandelt und versorgt werden mit Geld, das aus privaten Quellen kommt! Diese Kinder sind abhängig von der wohltätigen Initiative und den wohltätigen Spenden einzelner, von Menschen, die diesen Namen verdienen – wie zum Beispiel Fürstin Gracia Patricia, die in ihrem so kleinen Land so viel Gutes tut oder dafür sorgt, daß es getan wird – Sie haben es selber erlebt. Und derartige Privatinitiative gibt es unter jedem linken und unter jedem rechten Regime. Aber sie reicht nicht aus, sie reicht immer weniger aus! Und das ist – verzeihen Sie, ich rege mich immer wieder darüber auf, Herr Norton –, das ist die große, die ganz große Gemeinheit: Hier wie dort leiden durch diese Verhaltensweise die gleichen: Jene, die sich niemals wehren konnten und niemals werden wehren können. Jene, die immer und zu allen Zeiten betroffen sind – die Armen.«
»Da ist noch eine dritte Seite bei dieser Sache, Frau Doktor Reinhardt«, sagte ich. »Ich meine die Ärzte.«
7
W ir Ärzte haben das Gebot: ›Du sollst nicht töten‹. Es spielt keine Rolle, daß es ein biblisches Gebot ist. Der Arzt hat –unter welchem Regime auch immer – deshalb eine so hohe Verantwortung, weil er letztlich nicht kontrolliert werden kann! Der Arzt – unter jedem Regime – ist dem einzelnen Menschen verantwortlich, und das heißt, daß immer ein
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