Niemand ist eine Insel (German Edition)
und landete dann in der Eingangshalle, wo ich dem Pförtner sagte, daß ich auf Frau Dr. Reinhardt warte. Er nickte nur abwesend, damit beschäftigt, Briefmarken in einem Album zu ordnen.
Ich setzte mich, sah mir das seltsame Nero-Plakat an und bemerkte den stillen Mann am anderen Ende der Halle. Ich saß über eine Stunde da und dachte, daß Babs in dieser Stunde vielleicht sterben mußte oder daß sie schon gestorben war. Nein, dachte ich, wenn sie tot wäre, dann wäre Ruth sofort zu mir gekommen.
»… Norton!«
Ich sah auf.
Der Pförtner hatte gesprochen. Er hielt einen Telefonhörer in der Hand.
»Was ist?«
»Sie sind doch Herr Norton!«
»Ja, warum?« Wenn das so weiterging und ich nicht dazu kam, mich einmal ordentlich auszuschlafen, ein einziges Mal nur, dann fiel ich bald einfach auf die Schnauze, das spürte ich.
»Am Telefon verlangt!« Entweder dieser Pförtner war zu faul, ganze Sätze zu sprechen, oder ich war zu müde, sie zu verstehen.
»Ich?«
»Na ja doch!«
»Von wem?«
»Herrjesus, weiß ich doch nicht! Zentrale fragt, ob Sie da sind. Müssen da sein, sagt Zentrale. Sind ja auch da. Also wollen Sie nun oder nicht?«
Der stille Mann auf der anderen Seite der Halle sah mich ernst an. Ich stand auf. Als ich das Fenster des Pförtners erreichte, hielt er mir den Hörer hin. »Eine Zelle gibt’s hier nicht?«
»Kann das Gespräch nicht noch mal umlegen«, sagte der Pförtner. Vor sich hatte er eine Menge schöner Marken ausgebreitet. Ich sah, daß es die kompletten monegassischen Sätze der Jahre 1969 und 1970 waren. Das auch noch. Ich nahm den Hörer und stützte mich mit einem Ellbogen auf das Holz des schmalen Fensterbretts.
»Hallo?«
»Was heißt hier Hallo? Heißt du Hallo?« Bracken!
»Was gibt’s?«
»Joe ist in Paris. Mit seinen Leuten. Im LE MONDE. Er will uns sofort sprechen.«
»Joe kann mich …«
»Halt’s Maul. Glaubst du, für mich ist das schön? Ich muß heute nacht auch noch zurückfliegen. Mit Lejeune.«
»Wo bist du eigentlich?«
»In Madrid. Hier ist alles gutgegangen. Und bei dir?«
»Ich komme morgen. Muß schlafen.«
»Du fliegst noch heute nacht! Wie wir. Morgen um acht haben wir bei Joe zu sein!«
»Um … wann?«
»Acht Uhr, Trottel. Was bei dir los ist, will ich wissen.«
»Keine Ahnung. Ich warte schon seit einer Ewigkeit.«
»Vielleicht geht es der Kleinen sehr schlecht?«
»Vermutlich. Ich bleibe hier.«
»Du bist um acht im LE MONDE! Und wenn die Kleine tot ist! Joe hat vielleicht eine Laune, kann ich dir sagen, Mensch!«
»Joe kann mich …«
»Du wiederholst dich. Morgen um acht!«
Ich sagte gar nichts, ich gab dem Pförtner einfach den Hörer, und der legte ihn in die Gabel. Ich stützte den Kopf in beide Hände. Nein, nein, nein, das hielt kein Schwein aus, das …
»Herr Norton!«
Ich drehte mich um. Vor mir stand Ruth. Sie trug einen weißen Ärztemantel, und unter ihren Augen lagen wieder die tiefen, dunklen Ringe der Erschöpfung.
»Was … ach, Frau Doktor … Wie geht es ihr?«
»Nicht gut.« Ruth zog mich vom Fenster des Pförtners fort. »Der Flug war zu anstrengend.«
»Ich muß zurück, Frau Doktor«, sagte ich. »Heute nacht noch. Ich muß morgen um acht Uhr früh in Paris sein. Ich erhielt eben einen Anruf.«
Bevor sie antworten konnte, sagte eine Kinderstimme neben mir: »Wer bist du?«
Ich sah zur Seite. Da stand ein vielleicht zehnjähriger Junge mit schwarzem Haar und großen, brennenden schwarzen Augen. Er trug einen Morgenmantel über einem Pyjama und Pantoffeln.
»Sammy! Was machst du hier?« fragte Ruth erschrocken. »Wieso schläfst du nicht längst?«
Der Junge, der Sammy hieß, beachtete sie nicht. Er sah mich an und sagte: »Ich sehe, du willst mir nicht sagen, wer du bist. Ich werde dir sagen, wer ich bin. Ich bin Malechamawitz.«
»Du bist …«, begann ich und wurde unterbrochen von einer Schwester, die herbeigelaufen war.
»Sammy! Ich suche dich überall! Du weißt doch, daß du nachts nicht aufstehen darfst!«
» Sie wissen das auch, Schwester Leonore«, sagte Ruth zu ihr. »Und Sie wissen auch, daß Sammy schon oft aufgestanden ist und man deshalb besonders auf ihn achten muß. Er liegt auf Ihrer Station. Wie konnte er wieder ausreißen?«
»Wie soll ich auf dreißig Kinder aufpassen, von denen zwanzig unruhig sind? Unser Personalrat hat längst eine zweite Nachtschicht gefordert.«
»Schon gut. Bringen Sie Sammy jetzt zurück. Geh schön, Sammy, gute Nacht.« Ruth strich über
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