Niemand ist eine Insel (German Edition)
das Haar des Jungen und lächelte ihn an.
»Schalom.«
»Schalom«, sagte der kleine Junge. Er ließ sich von der Schwester fortführen, drehte sich noch einmal um und sagte zu mir: »Malechamawitz bin ich. Du hast verstanden, ja?«
»Ich habe verstanden«, sagte ich hilflos. Der kleine Junge verschwand mit der Schwester.
»Heißt er wirklich Malechamawitz?« fragte ich Ruth.
»Nein.«
»Aber …«
»Er ist sehr krank, Herr Norton. Er behauptet stets, Malechamawitz zu sein . Das ist ein jiddischer Ausdruck.«
»Und was bedeutet er?«
»Er bedeutet ›Engel des Todes‹«, sagte Ruth und fuhr gleich fort: »Was heißt, Sie müssen weg? Das geht doch nicht! Ich habe alle Befunde und Ihre Vollmacht und die falschen Unterlagen aus Paris mitgebracht … Ich setze durch, daß das Kind unerkannt bleibt … und Sie auch … aber Sie können Babs jetzt nicht allein lassen!«
»Ich muß.«
»Wer sagt das?«
»Die Bosse aus Hollywood sind angekommen. Große Beratung morgen. Sie verlangen, daß ich dabei bin.«
»Und das Kind bleibt hier? Und Sie bleiben in Paris?«
»Ja. Nein. Ja. Nein. Herrgott, ich weiß es noch nicht!«
»Herr Norton, es ist gänzlich unangebracht, hier zu schreien.«
»Tut mir leid … Ich habe nicht schreien wollen … Ich bin nur … Mir ist schlecht … Ich komme nicht zum Schlafen …«
»Ich auch nicht, Herr Norton.«
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Nerven. Nur Nerven.«
Sie nickte.
»Schon gut, Herr Norton. Jeder muß tun, was er tun muß. Aber Sie werden wiederkommen – schnellstens.«
Ich lächelte verzerrt.
»Schnellstens, natürlich. Ich …« – daran erstickte ich fast – »… liebe Babs doch, nicht wahr? Und ich …« – wieder das verzerrte Grinsen – »… und ich will Sie auch noch um das Buch da bitten.«
»Welches Buch?« Sie sah zu der Wand, zu der ich sah, und erblickte das Plakat. »Ach so!« Sie nickte. »Ja, deshalb müssen Sie auch kommen. Eigentlich gerade deshalb, Herr Norton.«
»Wieso gerade deshalb?«
»Erinnern Sie sich noch an das, was ich Ihnen während des Fluges über diesen unheilbar kranken Jungen erzählte, den wir hier haben, über Tim?« Ich mußte mich an die Mauer lehnen, sonst wäre ich umgefallen. »Und erinnern Sie sich an alles, was er mir sagte? Daß ich bestimmt ebenso sehr seinet- und der anderen kranken Kinder wegen hier wäre wie meinetwegen?«
Ich nickte.
»Sie müssen Tim kennenlernen. Er kann Ihnen zu allem, was Ihnen geschieht, mehr und besseres sagen als irgendeiner von uns Ärzten, Herr Norton, er kann …«
»Nein«, sagte eine Männerstimme.
Ruth fuhr herum. Der Mann mit dem bedrückten Gesicht, der mit mir in der Halle gesessen hatte, verbeugte sich.
»Guten Abend, Frau Doktor.«
»Guten Abend, Herr Pfarrer«, sagte Ruth. »Was heißt das, nein?«
»Das heißt«, sagte der ernste Mann leise, »daß unser Tim niemandem mehr etwas besser erklären können wird als ein Arzt, als ich, als irgend jemand.«
»Wieso … was ist … ist Tim …« Zum erstenmal sah ich Entsetzen in Ruths Gesicht.
Der ernste Mann nickte.
»Tim ist tot, Frau Doktor.«
28
I hren Beruf möchte ich nicht haben«, sagte ich böse zu dem Pfarrer. »Ja, es ist richtig, daß man unter der Last oft fast zusammenbricht«, sagte er leise.
»Warum?« fragte ich. »Warum, Herr Pfarrer, läßt Ihr Gütiger Vater im Himmel so furchtbares Unglück zu? Vergessen wir die Hungersnöte, die Kriege, die Pestilenzen und Seuchen. Warum, Herr Pfarrer, läßt Ihr Gütiger Vater im Himmel überhaupt zu, daß es Hunderttausende und immer mehr und mehr Gehirnkrüppel, Spastiker und Epileptiker und Mongoloide und Gelähmte und Laller und Kretins gibt, die nicht sterben und nicht leben können? Warum, Herr Pfarrer, warum hat Gott sich in seiner Allmacht für dieses sein Verhalten zu allem anderen auch noch Kinder ausgesucht? Nach der Schrift ist Gott dreierlei: nämlich allwissend, allmächtig und allgütig. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Da kann etwas mit der Heiligen Schrift nicht stimmen. Denn, wenn Sie erlauben, Ihr Gütiger Vater im Himmel kann nur zwei – höchstens zwei – von den drei Eigenschaften besitzen, die ich zitierte. Entweder ist er allwissend und allgütig. Dann kann er nicht allmächtig sein – sonst müßte er solches Elend verhindern. Oder er ist allgütig und allmächtig. Dann kann er nicht allwissend sein – sonst müßte er solches Elend verhindern. Oder aber Ihr Lieber Gott ist allwissend und
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