Niemand ist eine Insel (German Edition)
beschimpfen? Beides verstünde ich gleich gut. Was wollen Sie also?«
»Zuhören«, sagte ich.
»Danke«, sagte er und rückte an seiner Brille. »Ich spreche als evangelischer Theologe. Also: Von Gott weiß ich nur durch die Person Jesus Christus. Nur von seinem Verhalten weiß ich. Dabei beschäftigt mich das Problem des Leidens. Jesu Leiden war nicht das schlimmste Leiden, so grausam die Art seiner Hinrichtung auch war. Aber mittlerweile ist diese Grausamkeit tausendfach, hunderttausendfach, millionenfach überboten worden. In den KZs der Nazis. Bei der Ermordung von sechs Millionen Juden. In Stalins Lagern. In Korea. In Vietnam … Bei Jesu Leiden aber, Herr Norton, geht es um die Konsequenz seines Lebens und Wollens. Und hier, Herr Norton, hier offenbart sich Gott als der Ohnmächtige! …«
Und die sternklare, eiskalte Nacht lag um das Riesengebäude mit seinen vielen kranken, leidenden, sterbenden Kindern. Und ich saß da auf einer Bank in Nürnberg, wieder einmal irgendwo, irgendwo in der Welt.
»Ich habe Kinder begraben müssen«, sagte Pfarrer Hirtmann, »viele Kinder – die meisten aus diesem Hause. Ich habe selber drei kleine Kinder, Herr Norton. Sie werden mir glauben, daß die ›Vorbereitung‹ auf ein solches Kinderbegräbnis anders aussieht, als wenn es gilt, einen Achtzigjährigen zu beerdigen.«
»Kinder«, sagte ich. »Bleiben wir bei den Kindern.«
»Gewiß«, sagte er. »Ich habe die Eltern dieser Kinder besucht, die hilflos und fassungslos waren – und ich war selbst fassungslos und hilflos …« Er nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und sagte klanglos: »Aber, sehen Sie, das ist nun mein Beruf, und so liebe ich ihn: Wir können, wir dürfen nicht stumm und sprachlos sein! Wir haben etwas weiterzusagen, das wir nicht erfunden haben, und das Generationen im Leben und im Sterben geholfen hat.«
»Und das ist?« fragte ich.
»Es ist dies: Wenn der Satz heißt, daß der, der aus unserer Hand ist, nicht aus Gottes Hand ist, und daß Christus den Tod hinter sich hat – so bedeutet das, daß uns das Leben aufgetragen ist, das Leben insbesondere in der unsentimentalen, selbstverständlichen Gemeinschaft mit den Leidenden. Darin lebt Christus. Und so kann ein Mensch leben … Das genügt Ihnen nicht, wie?«
»Nein«, sagte ich. »Das genügt mir nicht.«
»Ich habe noch mehr zu sagen«, fuhr er fort. »Diese Solidarität ist nicht etwas, das Christen für sich reklamieren dürfen. Es gibt so viele Menschen, die aus anderen Motivationen verstehen, helfen, mitleiden. Christen leben einfach nur in der Beziehung zu Christus, der die Menschen miteinander bekannt gemacht und verwandt gemacht hat – der sie einander verpflichtet hat!«
»Und auch das genügt mir nicht«, sagte ich.
»Lassen Sie mich zu Ende sprechen«, sagte er. »Ich denke so: Das Leiden eines Menschen ist eine Aufgabe … ich wollte, ich fände ein besseres Wort! Das Leiden ist – subjektiv: ich weiß ein wenig davon – nicht etwas, das sinnvoll in ein System, in eine Theologie, in eine Ideologie zu integrieren wäre. Leiden, Schmerz – eigener und der um andere – ist Stigma unseres Menschseins. Ich weiß, das ist kein Trost. Aber Ehrlichkeit ist hier wichtiger als Balsam. Vor dem Leiden bin ich hilflos, und ich bin hilflos vor dem Leidenden, was die Worte, und sehr oft auch, was die Taten angeht. Ich bin auch im eigenen Leiden hilflos und erfahre doch von anderen, so gut sie es vermögen, Hilfe!«
»Ich will nicht …«
»Noch einen Moment! Was ich jetzt sage, wird Ihnen helfen, da bin ich gewiß! Bezogen auf Christus bedeutet das alles: Er ist der, der den Leidenden beigestanden hat. Er ist der, der mitleidet und der gelitten hat. Er war und er ist bei denen, die ohnmächtig sind – als der Ohnmächtige !«
Ich sah diesen ernsten Mann plötzlich gebannt an.
»Jeder Pfarrer ist ohnmächtig«, sagte Hirtmann, »wenn er hier eine Patentlösung geben soll. Trotzdem bin ich gerne Pfarrer, weil ich mit dem, was mir übergeben wurde, anderen beistehen kann. Ich vermag keine Theologie zu bieten, in der das schmerzvolle Schicksal eines Menschen aufginge. Und ich wollte auch nicht mehr Theologe sein, wenn aus solchen Schicksalen Theorien entstünden! Aber das kann ich – in vielen verschiedenen Formulierungen, je nach Art meines Gesprächspartners – sagen: Jede menschliche Vernunft wird bekräftigen, daß es kein Auferstehen von den Toten gibt. Wenn es keine Auferstehung von den
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