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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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allmächtig. Dann kann er, weiß der Himmel, nicht allgütig sein, wenn er derlei zuläßt. Also was nun, Herr Pfarrer?«
    Das sagte ich fünf Minuten, nachdem dieser junge Pfarrer – Hirtmann hieß er, Ernst Hirtmann, Protestant, und zu seinem Arbeitsgebiet gehörte auch die Betreuung des Sophienkrankenhauses –, nachdem Pfarrer Ernst Hirtmann Ruth gesagt hatte, daß der kleine Tim gestorben sei. Der kleine Tim war vor drei Stunden gestorben, Hirtmann war noch im Krankenhaus und bis zuletzt bei dem Kind gewesen. Danach hatte er versucht, die Eltern telefonisch zu erreichen. Tim war der Sohn eines wohlhabenden Industriellen. Die Eltern waren zu einer Party gefahren, die Haushälterin konnte Hirtmann nicht sagen, wohin. Er hatte der Haushälterin aufgetragen, die Eltern, wenn sie heimkämen, über den Tod ihres Sohnes zu informieren und ihnen mitzuteilen, sie könnten gleich in das Sophienkrankenhaus kommen, und wenn es sieben Uhr früh sei, hatte Hirtmann gesagt, er werde warten.
    Ruth war zu Babs gerufen worden. Der Nachtarzt brauchte ihre Hilfe. Babs’ Zustand hatte sich weiter verschlechtert. Ruth war fortgeeilt – und ich hatte mich neben Pfarrer Hirtmann auf eine Bank der leeren Halle gesetzt, gegenüber dem Nero-Plakat, dessen Schöpfer nicht mehr lebte, in weiter Entfernung von dem Nachtpförtner, der ganz mit seinen Briefmarken beschäftigt war.
    Pfarrer Ernst Hirtmann war ein Mann, der ruhig und langsam sprach, man sah, er überlegte jedes Wort. Häufig rückte er an seiner Brille. Auf meine Attacke antwortete Pfarrer Hirtmann so: »Was Sie hier anklagend vorgebracht haben, Herr Norton, ist nicht neu. Es ist die sogenannte ›Ausschließungsfrage‹. Und ich muß Ihnen widersprechen: Sie ist biblisch nicht belegbar!«
    »Doch!«
    »Nein«, sagte er still. »Glauben Sie mir, Herr Norton. Hier kenne ich mich besser aus. Das ist mein Beruf. Die ›Ausschließungsfrage‹ ist nicht exegetisch, sondern sie ist spekulativ. Gerade Spekulation aber sollte man bei einer so schlimmen Sache vermeiden. Jedoch: Etwas Logisches wird Ihnen hier kein Pfarrer der Welt bieten können. In keiner Rechnung geht Leid logisch auf! Trotzdem: Für mich ist die härteste Anklage gegen Gott frommer als das kultisch-routinierte Zudecken von Wunden. Gott als der Angeklagte, Herr Norton – das ist das christliche Thema!«
    Ich sah ihn an.
    Er erwiderte meinen Blick ernst.
    Ich hielt das nicht aus und sah über seine Schulter zu jenem Plakat. GESTATTEN, NERO …
    Hirtmann sprach weiter: »Was Sie da eben von den drei Eigenschaften Gottes sagten, Herr Norton, ist auf die scholastische Weise der Beschreibung göttlicher Eigenschaften bezogen. So hat ja auch wirklich – unglücklicherweise! – die Theologie Jahrhunderte hindurch gelehrt. Aber das ist nicht biblisch!« Er griff nach meiner Schulter und drehte meinen Kopf. »Ich möchte Ihr Gesicht sehen, wenn ich mit Ihnen spreche, Herr Norton, verzeihen Sie«, sagte er freundlich.
    »Verzeihen Sie , Herr Pfarrer.«
    »Und ich spreche im Moment mit Ihnen natürlich anders, als ich es später irgendwann mit Tims Eltern tun werde, oder auch anders, als ich es mit den Eltern eines Kindes tue, die Bauern oder Handwerker sind. Ich spreche mit jedem Menschen so, daß er mich verstehen kann. Sie können mich doch verstehen?« Ich nickte. »Nun, ich sagte, es sei nicht biblisch. Im Alten Testament ist von Gott als dem schaffenden, liebenden, strafenden, rächenden, eifernden – eben als von dem anthropomorphen Gott Jahwe die Rede. Sie werden nirgends ein System seiner Eigenschaften finden, Herr Norton! Die Klage ist so laut wie das Lob über ihn, die Erfahrungen mit ihm sind so positiv wie negativ. Klage und Lob – etwa in den Psalmen!«
    »Wie interessant«, sagte ich ironisch.
    »Ich weiß, Sie finden es nicht interessant, Sie finden es wahrscheinlich langweilig«, sagte Pfarrer Hirtmann. »Sie wollen Antwort auf Ihre Frage: Warum ist Babs, die niemals Böses getan hat, warum ist dieses unschuldige Kind auf eine so entsetzliche Weise ganz in die Nähe des Todes gekommen? Das ist es, was Sie wissen wollen.«
    »Ja«, sagte ich. »Das und nichts anderes.«
    »Jeder Vater, dem so etwas widerfährt, will das und nichts anderes wissen. Und auch jede Mutter. Sie haben mich gefragt. Ich kann nicht in zwei Sätzen antworten. Ich möchte aber antworten und Ihnen vielleicht – vielleicht – etwas Trost geben. Wollen Sie mich reden lassen und mir zuhören – oder wollen Sie mich nur

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