Niemand ist eine Insel (German Edition)
Toten gibt, kann auch Jesus nicht auferstanden sein. Diese Logik setzt Paulus fort: Wenn Jesus nicht auferstanden ist, dann sind wir Prediger schmutzige Lügner! Dann ist die ganze Kirche ein einziger riesiger Volksbetrug! Die Kirchensteuer rausgeschmissenes Geld! Dann fragen wir zu Recht: Was haben wir eigentlich mit diesem galiläischen Wanderprediger zu tun, der seine Leute gegen die pharisäische Oberschicht aufbrachte und sodann geschnappt wurde?«
»Ja und?«
»Und diesen Abgrund von Sinnlosigkeit reißt Paulus auf – der übrigens, wie Sie vielleicht wissen, selbst ein körperlich Behinderter war! Nur vor dem Hintergrund der totalen Finsternis läßt sich überhaupt von Auferstehung reden. Gegenüber der völligen Hoffnungslosigkeit soll Freude laut werden – wird Freude laut!«
»Freude?«
»Ja. Weil Paulus gegen alle Argumente, gegen alle Zweifel diesen Satz als Tatsache hinstellt: ›Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden!‹ Das Grab war leer, Herr Norton. Wir wissen nicht, ob es wirklich leer war. Es stand da kein Fotograf. Es ist keine historische Tatsache. Und trotzdem, Herr Norton, und trotzdem, und das ist der Trost, so hoffe ich: Wie erklären Sie, wie erklärt sich irgend jemand, daß damals immer mehr und mehr Leute behaupteten, das Grab sei leer gewesen, Christus sei auferstanden, er lebe wieder? Wie erklären Sie, daß dieselben Männer, die sich bei Jesus’ Verhaftung in alle Mauselöcher verkrochen, um nicht mitgefangen und mitgehangen zu werden, daß diese selben Männer, und auch das ist historisch, nun plötzlich, fast möchte man sagen: strahlend, herumsprangen und den anderen zuriefen: Er ist auferstanden! Sieg auf der ganzen Linie! An diese Leute, an ihre Predigt, an ihre Motive können wir uns historisch halten! Mehr und mehr Menschen wurden von der Gegenwart des Auferstandenen überwältigt, sie gerieten in Bewegung, eine Welt geriet in Bewegung – fast zweitausend Jahre ist es her. Also: Wer Gott in seiner Ohnmacht trifft, der ist in Sicherheit! Er verzichtet auf den Platz im Bunker, denn er ist in Sicherheit ! Jener Mann Christus, der im Recht war, ließ das Recht fahren. Er breitete seine Arme aus, um seine Feinde zu umfangen – und starb am Kreuz. Verhöhnt war die Gerechtigkeit Gottes, aber bewahrt war seine Treue: Denn aus dem Tod dieses Mannes stand lebendig die Macht des Vertrauens auf. Das Netz der Gefangenen zerriß. Durch das Gewebe der Paragraphen, durch versteinerte Überzeugungen hindurch blickte einer die Menschen an. Es kam der Mensch zum Vorschein, der das Glück für die anderen wollte, nicht das Recht für sich. Das modernste Raketenabwehrsystem macht meine Feinde nicht zu meinen Freunden. Erst wo das Mißtrauen schwindet, beginnt die Abrüstung. Sie beginnt, wo einer sagt: ›In Deine Hände befehle ich meinen Geist! …‹ Und dies: In jeder Klage ist die Hoffnung angelegt, aus der das große Vertrauen kommen kann. Der Klagende ist endlich geborgen dort, wo aus seinem Anspruch auf Glück und Gesundheit und Recht solches Vertrauen geworden ist …« Hirtmann holte Atem. »Damit aber habe ich ausgeschlossen: erstens, jede Relativierung von Leid à la ›Anderen geht es noch schlimmer‹; zweitens: jede fatalistische Erklärung à la ›Gott hat es so gewollt, es ist eine Prüfung‹; drittens: jede kompensatorische Erklärung à la ›Es wird dir gelohnt werden – droben!‹; und zuletzt die dümmste aller dieser ›Erklärungen‹, nämlich diese: ›Leiden ist Folge von Schuld‹.« Pfarrer Hirtmann senkte den Kopf, stützte ihn in die Hände und sagte, fast unhörbar: »Und trotzdem ist es furchtbar – jedesmal wieder aufs neue.«
29
P hil«, sagte Joe Gintzburger, die Finger ineinander verflochten, die Hände über dem Bauch, ein kleiner Mann, ein zerbrechlicher Mann, ein Mann mit sanfter, gütiger Stimme, sanften, gütigen Augen, langen Wimpern, weißen buschigen Brauen – auch sein dichtes Haar war weiß, auch sein gepflegter Schnurrbart, »mein lieber Phil, zuerst muß ich Ihnen in meinem und im Namen von uns allen aus Herzensgrund danken für alles, was Sie bisher getan haben in dieser schrecklichen Geschichte.«
Da war es fünf Minuten nach acht Uhr früh am 4. Dezember 1971, einem Samstag. (Tatsächlich, acht Uhr früh! Draußen war es noch dunkel, hier, in Joes Appartement im LE MONDE, brannte elektrisches Licht.) Wir frühstückten an mehreren runden Tischen, die von Kellnern hereingerollt worden waren. Die meisten
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