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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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ich es mir nicht vorstellen konnte, daß es sie einmal nicht mehr in meinem Leben geben sollte. Nun, und wer ist da verrückter? dachte ich.

39
    D er Kellner, der uns bediente, war schon alt. Er war dick. Er war müde. Vielleicht war er krank, er keuchte stets leise. Aber er lächelte auch stets und war von größter Höflichkeit. Ich mußte sofort an den hinkenden Kellner des Autobahnrestaurants ›Beiz‹ in der phantastischen Raststätte Würenlos nahe Zürich denken. Für jeden, der arbeitet, ist es schlimm, wenn er alt wird. Für Kellner ist es besonders schlimm.
    »Darf ich Ihnen noch ein paar Kartoffeln geben, Frau Doktor?« fragte er lächelnd. Ruth schien häufig hierherzukommen, der Kellner kannte sie gut.
    »Ja, bitte, Herr Arnold.«
    »Ihnen auch, mein Herr?«
    »Gerne, Herr Arnold.«
    Wir saßen in dem sogenannten ›Karpfenzimmer‹. Das ist ein berühmter Raum, einer von den drei Speisesälen des ›Edelbräu-Kellers‹. Ruth hatte mich inzwischen erschöpfend informiert. Das nahegelegene ›Patrizierzimmer‹ ist, wie ich seit jenem Abend weiß, mit den Wappen alter Nürnberger Geschlechter geschmückt. Die Wände des größten Raums haben Studenten und Professoren der Nürnberger Kunstakademie mit drei Gemälden geschmückt, darstellend eine Gruppe Patrizier, den Nürnberger ›Büttnertanz‹ und endlich das Nürnberger ›Narrenschiff‹.
    Als Ruth mir von jenem Narrenschiff erzählt hatte, hatte sie gefragt: »Kennen Sie den Roman von der Porter?«
    »Aber ja«, hatte ich geantwortet. »Es ist eines meiner Lieblingsbücher.«
    »Auch von mir«, hatte sie geantwortet und mich wieder angesehen mit ihren ernsten, braunen Augen in dem Gesicht mit der kleinen, geraden Nase, den hochsitzenden Backenknochen und der so reinen weißen Haut. Ihr kastanienbraunes Haar glänzte. »Den Titel ›Das Narrenschiff‹ hat die Porter von Sebastian Brant übernommen. Der schrieb eine moralische Allegorie mit diesem Titel irgendwann im fünfzehnten Jahrhundert.«
    »Ich weiß«, hatte ich gesagt. Salem, mein Herr Richter …
    Nun, beim Essen, kam Ruth noch einmal auf den Roman der großen amerikanischen Dichterin Katherine Anne Porter zurück. Sie sagte: »Das Narrenschiff … Die Porter hat dieses so einfache und dabei universale Sinnbild Brants übernommen: Das Schiff dieser Welt auf seiner Fahrt in die Ewigkeit.«
    »Ich kenne die Porter«, sagte ich.
    »Tatsächlich?«
    »Ja«, sagte ich und fühlte mich so geborgen, so unendlich geborgen an Ruths Seite, fühlte mich tatsächlich fast wie ein anständiger Mensch, mein Herr Richter. »Ja, Frau Doktor. Als die Porter ihr berühmtes Interview für die PARIS REVIEW gab, waren wir dabei.«
    »Wer wir?«
    »Nun, ich und … Mrs. Moran.«
    »Oh, selbstverständlich. Wie dumm von mir. Und?«
    Da gab es ja noch Sylvia!
    Und wie es sie noch gab!
    Über ein paar Stunden in Ruths Gegenwart hatte ich tatsächlich Sylvias Existenz vergessen. Ich starrte auf meinen Teller.
    »Und?« fragte Ruth.
    »Und«, sagte ich mit einiger Anstrengung zunächst, »die Porter gab das Interview im LE MONDE. Wir wohnen immer dort, wenn wir in Paris sind. Mrs. Moran bereitete damals gerade einen Film vor, sie kannte die Porter bereits, und Mrs. Porter gestattete uns, bei dem Interview anwesend zu sein. Das war mein Wunsch, Mrs. Moran richtete ihn nur aus.«
    »O ja, dieses berühmt gewordene Interview«, sagte Ruth. »Liebt Mrs. Moran das Buch auch?«
    »Ja«, sagte ich ohne zu zögern, denn ich wollte nicht an Sylvia denken. Sie kannte das Buch nur aus meinen Erzählungen und hatte immer gefunden, daß es zu dick und zu kompliziert sei, mit zu vielen Figuren, wie sie sagte, als ich ihr einmal vorschlug, die ›Condesa‹ zu spielen. (»Das ist doch keine Hauptrolle, bist du verrückt geworden, Wölfchen?«) Ich sagte rasch weiter: »Mrs. Porter erklärte den Interviewern etwa folgendes: ›Die Schiffsreise, die in meinem Roman geschildert wird, ist symbolisch zu verstehen: Es ist eine Reise ins Chaos. Denn das menschliche Leben selbst ist ein einziges Chaos. Jeder behauptet seinen Platz, besteht auf seinen Rechten und Gefühlen, mißversteht die Motive der anderen und seine eigenen. Niemand weiß vorher, wie das Leben, das er führt, endet, auch ich selber nicht – vergessen Sie nicht, daß auch ich ein Passagier auf diesem Schiff bin. Es sind keineswegs nur die anderen, die die Narren abgeben. Mangel an Verständnis und Isolierung sind die natürlichen Lebensbedingungen des

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