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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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noch genau. Ich trug einen unauffälligen Wintermantel und einen Flanellanzug – und die Hornbrille mit ihrem Fensterglas. Wir nahmen ein Taxi bis zum Hauptbahnhof. Hier zeigte mir Ruth den Eingang zur Altstadt – das im alten Stil wiederhergestellte Frauentor, das mit vierzig Meter hohem Rundturm aus dem zwanzig Meter breiten Stadtgraben aufsteigt, daneben das Königstor und die Stadtmauer.
    Wir waren beide zu jung, als daß wir wirkliche Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Dritten Reich hätten haben können. Doch Ruth stammte aus Nürnberg, sie war hier aufgewachsen, und sie hatte alle Bombardierungen Nürnbergs miterlebt. Sie wußte, was zerstört worden war.
    Sie führte mich in den Waffenhof des Frauentores, durch das man die Hauptstraße der Altstadt betritt, die – wie ich seit jenem Abend weiß – Königstraße. Anläßlich dieses Spaziergangs lernte ich an Ruth eine neue Eigenart kennen.
    Ich hatte sie bisher nur in Kliniken oder geschlossenen Räumen erlebt, nun erlebte ich sie zum ersten Mal außerhalb ihres Arbeitsbereichs. Sie tat etwas Seltsames, und sie tat es so regelmäßig, daß man darauf warten konnte. Es verwirrte mich zunächst sehr, denn gerade etwas Derartiges hatte ich von ihr nicht erwartet. Als wir die Königstraße betraten, tat sie es wieder, wie schon vor dem Bahnhof, und nun vor den Geschäften der Königstraße, vor denen wir stehenblieben, und vor der wiederaufgebauten St.-Martha-Kirche. Hier ging sie ein paar Schritte vor mir, blieb stehen und sah mich mit einem verlegenen Lächeln an.
    »Sie müssen mich für etwas idiotisch halten, Herr Norton.«
    »Wieso?« fragte ich.
    »Ich bin schon wieder in die falsche Richtung gegangen! Ich gehe, seit ich Ihnen Nürnberg zeige, dauernd zuerst in die falsche Richtung, es ist scheußlich.«
    »Sie sind nervös.«
    »O nein«, sagte sie. »Das ist es nicht. Es liegt daran, daß ich von einem bestimmten Zeitpunkt an – als Kind war ich noch nicht so – einen schweren Tick entwickelt habe.«
    »Tick?«
    Ich sah sie an. Sie trug ein Tuch über dem kurzgeschnittenen Haar, ihre kastanienbraunen Augen flackerten ein wenig. Ich sagte schon, mein Herr Richter, Ruth war keine Schönheit im eigentlichen Sinne des Wortes. Nicht zu vergleichen etwa mit Sylvia. Sie hatte jedoch die schönsten Augen von all den vielen Frauen, denen ich begegnet bin, kastanienbraun wie das Haar, mit langen Wimpern und stets (auch jetzt) erfüllt von jener ruhigen Traurigkeit.
    »Ja«, sagte sie, und in der Kälte konnte ich ihren Atem sehen, wenn sie sprach. »Ich kenne Nürnberg wirklich wie meine Tasche. Ich kenne viele andere Städte. Egal – und wenn ich an all diesen mir so bekannten Stätten auch nur wenige Minuten in einem Geschäft, in einer Kirche oder jetzt hier vor dieser Kirche gestanden habe, und ich will weiter – Sie können Ihr Leben darauf verwetten: Ich werde jedesmal in die falsche Richtung gehen! Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung sollte ich nach so vielen Jahren und Wegen doch nur in fünfzig Prozent der Fälle die falsche Richtung wählen. Nicht ich! Ich gehe in hundert Prozent der Fälle in die falsche Richtung! Ich bin ein bißchen verrückt. Peinlich für eine Ärztin.«
    »Wir sind alle ein bißchen verrückt«, sagte ich.
    Sie sagte: »Nicht alle. Es hat wohl seinen Grund bei mir. Sie können sich nicht vorstellen, was mir alles in Nürnberg, in Paris, in so vielen Städten Europas … und in Amerika, in Chicago, als ich bei Doktor Bettelheim arbeitete, passiert ist, wenn ich unterwegs war. Nicht nur zu Fuß! Auch mit dem Wagen! Wenn es eine Straßengabelung, eine Schnellstraße, ein Autobahnkreuz gibt – und ich habe sie alle schon tausendmal gesehen –, geschieht es, sinnlos: Ich werde in die falsche Richtung fahren! Aber nun kommt das Verrückteste, Herr Norton: Ich erreiche trotzdem immer den Ort, zu dem ich kommen will. Und das Allerverrückteste: Ich erreiche ihn sogar pünktlich! Trotz meiner Umwege und Irrwege und Irrfahrten. Ich bin bei den Kollegen als absolut pünktlich bekannt.«
    »Vielleicht sollten Sie sich von einem Kollegen einmal analysieren lassen.«
    Ich hatte mich, während wir weitergingen, bei ihr eingehängt. Nun fühlte ich, wie ihr Arm hart wurde.
    »Nein«, sagte sie kurz. Und gleich darauf wieder freundlich: »Da ist schon der ›Edelbräu-Keller‹. Ich dachte, wir gehen hier essen.«
    »Großartig«, sagte ich und dachte, daß ich noch niemals einer solchen Frau begegnet war und daß

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