Niemand ist eine Insel (German Edition)
volltrunken unter den Bäumen dahinschwankte, von Stamm zu Stamm, auf der anderen Seite der Straße. Der sehr alte Mann sang mit kräftiger und doch zitternder Greisenstimme, und ich hörte seine Worte sehr deutlich, denn es war nun, wie ich auf meiner Uhr sah, halb zwei Uhr nachts, und es schien kein anderes Geräusch mehr in der Stadt zu geben: »O Susanna«, sang der alte, betrunkene Mann, »wie ist das Leben doch so schön, o Susanna, wie ist das Leben schön. O Susanna …«
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T ut mir leid, wenn ich Sie störe, aber ich sagte doch, ich würde noch anrufen wegen dieses Kerls«, klang die Stimme des Hauptkommissars Wigbert Sondersen aus dem Telefonhörer, den ich nach einiger Mühe geangelt hatte, an mein Ohr.
»Ja, natürlich, ich danke Ihnen, Herr Sondersen.« Es war 5 Uhr 07, sah ich, als ich auf meine Armbanduhr mit dem leuchtenden Zifferblatt blickte. Draußen regnete es jetzt heftig, hörte ich. Und dazu Sondersens Stimme: »Ging sehr schnell, Herr Norton, weil der Kerl den Amerikanern Gott sei Dank gut bekannt ist.«
»Bekannt?«
»Ja. Einschlägig bekannt.« Jetzt fand ich auch den Druckknopf der Nachttischlampe und knipste sie an. Das Licht war zu grell. Meine Augen schmerzten. Mein Kopf schmerzte. Vielleicht werde ich krank, dachte ich, Grippe oder so etwas. Ich wäre gerne krank geworden. Mit ein bißchen Fieber. Nichts Schlimmes. Aber so schlimm, daß ich im Bett liegen und man mich mit nichts belasten durfte. »Der Mann heißt Roger Marne.«
»Welcher – ach so.« Das mit der Krankheit würde nichts werden, dachte ich, und legte mich zurück. Ich mußte immer weiter und weiter vorwärtstaumeln, hinein in diesen endlosen Tunnel, in der Hoffnung, seinem Ende mit jedem Schritt näher zu kommen und ihn wieder verlassen zu können. Und doch wußte ich, daß dieser Tunnel kein Ende hatte, jedenfalls kein offenes, das ins Freie führte. Es war ein kreisförmig in sich geschlossener Tunnel, in dem ich mich da befand, und ich wußte auch das. Und wußte auch, daß ich schließlich verrecken würde in ihm. Mir war wirklich schlecht an diesem frühen Morgen. »Roger Marne«, sagte ich. Und der Regen pladderte auf den Balkon. Bloß nie mehr aufstehen müssen, dachte ich.
»Die Minox haben wir auch. Und alle Filme. Wir waren am Hauptbahnhof mit diesem Marne, die Amis und ich. Man hat mir die Fotos und die Kamera gegeben – die Filme stehen Ihnen zur Verfügung.«
»Danke, Herr Sondersen«, sagte ich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, ich danke Ihnen tausendmal und …«
»Hören Sie auf, Herr Norton«, sagte die ruhige Stimme. »Sie wissen doch, ich … Wir tun, was wir können, um Ihnen zu helfen.«
»Ich weiß. Und eben deshalb: Danke!« Ich fühlte mich etwas besser. »Wer ist dieser Roger Marne? Ein Verrückter?«
»Wenn er will.«
»Was?«
»Wenn er nicht will, ist er nicht verrückt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»In meinem Beruf kennen wir den Typ des Simulanten, wir nennen so was ein ›Clown‹. Das ist ein Mann, der je nach der Lage, in der er sich befindet, den Verrückten, den Verletzten, den Schwulen, den Jämmerling, den Winsler, aber auch den Supermann und den hysterischen Brüller spielt – da gibt es hundert Arten. Marne ist so ein ›Clown‹. Bruch und Bruchband hat er übrigens wirklich. Allerdings: Ganz klar im Kopf ist er nicht! Die psychiatrischen Gutachter, die mit ihm zu tun hatten, sind nie zu einer einheitlichen Meinung gekommen.«
»Ist Marne schon einmal untersucht worden?«
»Mindestens zehnmal. Von verschiedenen Psychiatern. Der Kerl stand viermal vor Gericht.«
Ich setzte mich auf. »Warum?«
»Erpressung, Falschspiel, Hehlerei, Leiter eines Callgirl-Rings.«
»Eines Callgirl-Rings – Marne?«
»Ich wollte es auch nicht glauben. Aber ich habe einiges von den Amerikanern erfahren. Man soll es nicht für möglich halten. Wie kommt so was an Sie heran?«
»Das möchte ich auch gerne wissen«, sagte ich. »Wie kommt dieser Marne nach Nürnberg?«
»Das möchten wiederum die Amis gerne wissen. Sehen Sie, Herr Norton, jedesmal, wenn sie Marne vor Gericht gestellt haben, forderten seine Anwälte psychiatrische Gutachter. Und die wurden sich nie einig, ob er wirklich total unzurechnungsfähig oder eben nur ein ›Clown‹ mit einem Hieb ist. Es waren stets drei Gutachter, nicht wahr, und zwei stellten immer die Diagnose auf Unzurechnungsfähigkeit, und so kam Marne trotz allem, was er bisher angestellt hat, nie ins Gefängnis, sondern immer in
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