Niemand ist eine Insel (German Edition)
Herren, haben nicht einmal die entfernteste Ahnung von dem Ausmaß des Leidens, das mein Vater meine Mutter ertragen ließ. Ist das richtig, Herr Professor?«
»Das ist richtig«, sagte Salmerón. »Hätte die Öffentlichkeit auch nur eine einigermaßen klare Vorstellung von den Qualen unheilbar Kranker, würde sie uns sofort klarste Anweisungen geben, solche Qualen nicht zuzulassen.«
»Ich verstehe das alles immer weniger«, sagte ich. »Wo sind hier unvorstellbare Qualen, wo ist hier ein fanatischer Katholik, wo ist hier ein unrettbarer Krebskranker, was bringt Sie zu solchen Äußerungen, Herr Professor, und vor allem, was bringt Herrn Doktor Wolken zu Ihnen ?«
»Ich war damals Oberarzt unter jenem Professor Wolken an jener Baseler Klinik, Herr Kaven«, sagte Salmerón. »Ich habe die entsetzlichen Torturen von Herrn Doktor Wolkens Mutter hilflos miterleben müssen. Zwei Jahre später habe ich dann diesem Professor Wolken, der an Magenkrebs erkrankt war, als er mich um Erlösung anflehte, eine enorme Überdosis des entsprechenden Medikaments gespritzt und ihn von seinen Qualen erlöst. Und in all der Zeit und noch lange nachher, bis ich Basel verließ, kannte ich diesen Herrn Doktor Wolken hier, noch als Jungen. Und ich war sein Trost und sein Halt – wenn ich das sagen darf, Herr Doktor Wolken.«
»Sie müssen es sagen, Herr Professor! Und ich muß auch noch etwas sagen: Ohne Ihre unzähligen Versuche, mir in meiner Verzweiflung über den entsetzlichen Tod der Mutter hinwegzuhelfen, hätte ich mich damals umgebracht.« Wolken wandte sich an Bracken und mich. »So ist das, meine Herren. Kleine Welt, wie? Klingt wie Roman und ist doch Wahrheit. Damals Basel, heute Madrid. Ist es Ihnen jetzt verständlich, daß ich mich in meinem Dilemma, vor dem ich angesichts des Leidens der armen Babs stand, an meinen Lebensretter von einst gewandt habe?«
Wir schwiegen.
Kirchenglocken läuteten.
»Sie insbesondere, Herr Kaven, haben bislang nur mit einer – sicher aus guten Gründen! – erbitterten Euthanasie- Gegnerin zu tun gehabt, mit der sehr ehrenwerten und von mir hochgeachteten Frau Doktor Reinhardt. Doch hat das Problem der Sterbehilfe, der aktiven und der passiven Euthanasie, nicht nur eine, sondern zwei Seiten – wie Sie sehen.«
52
L ejeune blickte zum Fenster hinaus.
Ich sah Bracken an. Zuerst schüttelte er den Kopf, aber dann zuckte er die Schultern. Genauso war mir zumute. Erster Eindruck: Doktor Wolken handelte aus persönlich nur allzu verständlichen Motiven und konnte nichts mit diesem simulierenden Kriminellen, diesem ›Clown‹ Roger Marne zu tun haben, er konnte nicht sein Komplize sein. Zweiter Gedanke: Nein, konnte er wirklich nicht? Warum eigentlich nicht? Sprach doch einiges dafür: Wolkens niemals verarbeitetes Kindheitstrauma (das natürlich auch seine Ticks – Verneigen, Verlegenheit, Wippen – erklärte); Wolkens durch eigene Erfahrungen begreiflicher Haß auf alle Ärzte von der Art Ruths; Salmeróns richtige oder unrichtige – ich konnte es nicht mehr sagen – Behauptung, daß es beim Problem der Euthanasie zwei Ansichten gebe, beide gleichermaßen ernstzunehmen. Der Professor jedenfalls schien eine ganz andere Auffassung zu vertreten als Ruth.
Er bestätigte, was ich eben gedacht hatte, mit seinen nächsten Worten: »Ich habe mir von Herrn Doktor Wolken Einzelheiten über die Erkrankung, ihre Schwere und über die Situation rund um Babs erzählen lassen, meine Herren. Danach muß ich sagen, daß ich natürlich nicht – jedenfalls im Moment noch nicht – dafür bin, das Leben dieses unglücklichen Kindes zu beenden, das, und das wissen Sie am besten, Herr Kaven, niemals, nein, niemals wieder ganz gesund werden, sondern sein Leben als Behinderte wird verbringen müssen. Wenn alles gutgeht, wohlgemerkt.«
»Es wird alles …«
»Lassen Sie mich aussprechen. Ich sehe auf der einen Seite die Handlungsweise von Ihnen da in Paris ein, besonders von den Filmleuten, was nicht heißen soll, daß ich diese eiskalte Art gutheiße, ohne jede menschlichen Bedenken alles zu tun, bloß damit das Geschäft weiterläuft, damit ein Star ein Star bleibt und die Millionen weiter hereinkommen. Es kann ein Fall eintreten – jederzeit, das wissen Sie! –, bei dem Babs wiederum in Lebensgefahr gerät, wenn sie überhaupt schon außer Lebensgefahr ist, wie Sie sagen.«
»Sie ist es«, sagte ich. Die Kirchenglocken machten mich noch wahnsinnig! Bimm-bamm. Bimm-bamm.
»Nun, dann
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