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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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er nicht mehr, senkte er nicht mehr verlegen den Kopf, sondern sprach mit fester, ja aggressiver Stimme, sah jedem von uns dabei fest in die Augen – und im übrigen setzte er sich endlich. Ich fand es blöde, weiter zu stehen, und setzte mich ebenfalls. Bracken sah mich an, dann tat er dasselbe. Lejeune saß längst.
    Ich sagte: »Es ist mir völlig rätselhaft, was Sie im Zusammenhang mit Ihrer krebskranken Schülerin bewogen hat, abzuhauen, jawohl, abzuhauen und ausgerechnet hierher zu kommen. Der Fall Ihres kleinen Mädchens, das um den Tod bettelte, hat nichts, absolut nichts mit Babs zu tun, und zwar deshalb nicht, weil es sich bei Babs nicht um ein krebskrankes Kind handelt, das furchtbare Schmerzen hat, sondern um ein Kind mit einer abklingenden Meningo-Encephalitis – die von Babs ist im Abklingen! Keinesfalls leidet sie unter irgendwelchen Schmerzen, die Ihr Mitleid erregt haben könnten, und es wird bei ihr zu einer grundlegenden Besserung kommen, vielleicht sogar zu einer Fast-Heilung.«
    »Nein«, sagte Dr. Wolken. »Das wird nicht so sein, und Sie wissen es. Sie – und alle anderen – lügen sich in die Tasche. Sie haben – rund um dieses bedauernswerte Kind, das mir sehr am Herzen liegt – aus rein merkantilen Gründen, und das ist besonders verächtlich, ein Riesengebäude der Täuschung und des Betrugs aufgebaut und werden immer weiter täuschen und betrügen, dessen bin ich nach all den Gesprächen, deren Zeuge ich war, sicher. Babs wird – bestenfalls – verblöden und …«
    »Das wird sie nicht!« schrie ich und sprang auf.
    »Bitte, setzen Sie sich, Herr Kaven«, sagte Salmerón. Ich setzte mich und schrie weiter: »Babs ist in bester Pflege! Sie war auch Ihrer Pflege und Obsorge anvertraut, Herr Doktor, und es würden mich die wahren Motive für ein Verhalten wie das Ihre interessieren.«
    »Die sind ganz einfach«, sagte Dr. Wolken. »Ich wünsche an einem derartigen Betrug nicht mitschuldig zu sein.«
    »Sie dreckiger …«, begann Bracken und fuhr übergangslos fort: »Also wieviel kostet es, wenn Sie bleiben? Wir wissen alle, daß Sie verlangen können, was Sie wollen, wir werden es bezahlen.«
    »Wenn Sie sich nicht sofort für diese Niedertracht entschuldigen, Mister Bracken«, sagte Dr. Wolken gelassen, »werde ich Herrn Professor Salmerón bitten, Sie aus diesem Zimmer entfernen zu lassen.«
    In der Stille, die diesen Worten folgte, hörte ich Kirchenglocken. Ich hörte in Madrid immer irgendwelche Glocken irgendwelcher Kirchen. Ich sah, daß Bracken sich die Lippen beleckte.
    »Also, wie ist das, Mister Bracken?« fragte Salmerón ruhig, und es war völlig klar, daß er tatsächlich bereit war, Rod hinauszuwerfen. Er stand, das war ebenfalls klar, auf seiten Dr. Wolkens.
    »Es tut mir leid, ich entschuldige mich«, sagte Bracken und erstickte fast an seinen Worten.
    »Gut«, sagte Dr. Wolken. Das war alles. Dann sagte er, ziemlich hektisch: »Meine Mutter ist an Kehlkopfkrebs gestorben. Ich war noch sehr klein. Meine Mutter hatte das Unglück, daß mein Vater Arzt und fanatischer – ich finde kein anderes Wort – und fanatischer Katholik war. Und das weitere Unglück, daß er meine Mutter behandelte! In einer Klinik in Basel. Als fanatischer Katholik verlangte er, wie er sich ausdrückte, daß meine Mutter, gleichfalls katholisch, ihren Tod ›bewußt erlebe‹, das heißt, er gab ihr, obwohl sie ihn darum anflehte, als die Schmerzen absolut unerträglich wurden, kein Morphium! Alle anderen Ärzte des Krankenhauses – und natürlich ich – haßten ihn wie die Pest. Aber keiner wagte, meiner Mutter an seiner Stelle Morphium zu geben, denn er war ihrer aller Chef.« Jetzt hatten sich rote Flecken auf Herrn Dr. Wolkens Wangen gebildet, er redete gehetzt, seine Hände waren zu Fäusten geballt: »Und so ließ mein Vater meine arme Mutter ›bewußt‹ ihren Tod erleben und …«
    »›Bewußt erleben‹?« fragte ich. »Was meinte Ihr Vater damit?«
    »Mein frommer Vater erklärte es mir, und ich werde es nie vergessen«, sagte Dr. Wolken. Er würgte sich fast zu Tode an jedem Wort. »Er erklärte es mir so: ›Man darf den Menschen nicht seines eigenen Sterbens berauben, jenes erhabensten Erlebnisses, das ihm zusteht und welches ihm die klarste und wertvollste Antwort gibt.‹ Das war die Ansicht meines frommen Vaters, Herr Kaven, und das bei Schmerzen, die, wie mir Herr Professor Salmerón bestätigt, sich überhaupt niemand vorstellen kann. Sie, meine

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