Niemand ist eine Insel (German Edition)
entschlossen sein würde, Babs nicht etwa Sterbehilfe zu geben, mein Herr Richter, nicht Sterbehilfe, nein, sondern entschlossen sein würde, Babs sterben zu lassen.
Dr. Wolken sagte: »Babs ist anders als andere Kinder. Sie ist die Tochter der größten Filmschauspielerin, die wir kennen. Sie ist seit ihrer Geburt gefangen im Netz dieser Besonderheit, dieses Milieus, dieser Industrie, in der es um Geld, Geld, Geld geht, und in der man in diesem Fall ausnahmsweise und leidenschaftlich alles tut und tun wird, um nicht über Leichen – eine kleine Leiche – zu gehen. Ich wäre bei Ihnen geblieben, Herr Kaven, wenn das Ganze nicht eine so ekelerregende Verquickung von Krankheit und Geschäft wäre.«
»Jetzt langt’s aber …«, begann Bracken.
»Sei ruhig, Rod«, sagte ich. »Sprechen Sie weiter, Herr Doktor.« Und ich dachte über die seltsame Kraft nach, die das Unglück, nicht das Glück, den Menschen gibt, und wie es sie verwandelt. Tiefer und tiefer redete Dr. Wolken sich in Haß hinein: »Was würde sein, wenn Babs nicht die Tochter von Mrs. Moran wäre, sondern das Kind einer Arbeiterin, einer Waschfrau, einer ledigen Mutter?«
»Fangen Sie jetzt bloß noch mit den sozialen Aspekten an«, sagte Bracken, »dann …«
»Soziale Aspekte«, sagte Salmerón langsam, »Mister Bracken, sind gar nicht so uninteressant für alle jene, die sich gegen eine irrsinnig teure Behandlung eines cerebralgeschädigten Kindes aussprechen. Glauben Sie mir, solche Argumente sind nicht von der Hand zu weisen. Die Kosten der Intensivmedizin betragen schon heute für einen einzigen Tag – Moment–, ja, in Ihrer Währung also: eintausendachthundert Mark! Für einen Tag! Und sie steigen und steigen! Der Hirnchirurg Kautzky, den ich immer wieder erwähne, weil der SPIEGEL ihn immer wieder erwähnt, hat diese Rechnung aufgestellt: Vom selben Geld können in einer Hungerzone für den gleichen Zeitraum hundert bis zweihundert Menschen am Leben erhalten werden! Einer, der fast schon kein Mensch mehr ist – oder hundert bis zweihundert Menschen, die verhungern: Wer hat hier mehr Recht auf Hilfe, Herr Kaven?«
»Babs ist noch ein Kind«, sagte ich, aber reichlich schwach. »Und ich finde die Sache mit den Kosten für Intensivpflege und den Vergleich mit den Hungernden unzulässig.«
»Reden wir also, von Kindern, vergessen wir die Intensivstationen. Die Hungernden wollen wir doch nicht vergessen, Herr Kaven, nicht wahr?« Salmerón strich über den Rücken der Madonna auf seinem Schreibtisch. »Wir haben hier ein moralisches Dilemma, und was für eines! Leszek Kolakowski, der polnische Philosoph, hat dieses Dilemma so artikuliert: ›Warum sollen Wohlstandsgesellschaften oder begüterte Klassen zurückgebliebene oder verkrüppelte Kinder mit großem Aufwand am Leben erhalten, wenn gleichzeitig Millionen normaler Kinder der Unterernährung oder mangelnder ärztlicher Versorgung zum Opfer fallen?‹«
Gleichzeitig sprachen Bracken und ich.
Bracken sagte: »Ich habe jetzt genug.«
Ich sagte: »Ich kann das nicht mehr hören.«
Lejeune fragte Dr. Wolken: »Sie kommen also unter keinen Umständen zurück?«
»Unter keinen Umständen«, antwortete dieser. »Ich weiß schon, wovor Sie nun Angst haben. Davor, daß ich herumerzähle, was ich weiß, daß ich vor die Öffentlichkeit trete. All das werde ich niemals tun.«
54
S ie saß in einem Lehnstuhl beim Fenster, als ich in ihr Zimmer trat. Es war ein großes, hohes Zimmer. Draußen an der Tür stand die Nummer 17. Darunter hing eine Tafel mit diesen Worten (auf spanisch):
ABSOLUTE RUHE!
EINTRITT VERBOTEN!
PATIENT WIRD ALLEIN VON HERRN PROFESSOR
SALMERÓN BEHANDELT
»Herr Kaven!« Clarissas weiße Gesichtshaut rötete sich, sie stand auf. »Wie schön, daß Sie zu mir kommen!«
»Der Herr Professor hat mit der Schwester telefoniert, die beim Eingang der Privatabteilung sitzt. Er hat gesagt, ich darf Sie besuchen. Darauf hat mich diese Schwester in die Privatabteilung gelassen. Prächtig organisiert ist das hier. Kein Reporter kommt an Sie heran.«
»Nein, Herr Kaven.« Clarissa Geiringer, siebenundzwanzig Jahre alt, hübsch, sehr blond, trug einen dicken Morgenmantel und Pantoffeln. Sie hatte gelesen. Das Buch hielt sie noch in der Hand. Jetzt legte sie es auf einen Tisch. Das Krankenzimmer war modern eingerichtet. Aus dem Fenster sah man den ganzen Campo del Moro, einen Teil des Palastes und die riesige Kirche Nuestra Señora de la Almudena. An der Wand hingen
Weitere Kostenlose Bücher