Niemand ist eine Insel (German Edition)
weil dümmsten, die es gibt. Dieses Gespräch findet anläßlich eines langen Spaziergangs statt – wir sind nach Steinbühl hinausgefahren, dem südlich gelegenen Stadtteil von Nürnberg, und dann noch ein Stück weiter bis zu der nun tiefverschneiten sogenannten ›Gartenstadt‹.
Natürlich hat sich Ruth andauernd verfahren (das ist wirklich ein schlimmer Tick bei ihr), und dann ist sie auch immer wieder in die falsche Richtung gegangen. Trotzdem: Zuletzt sind wir in der ›Gartenstadt‹ gelandet.
Hier stehen ein Hochhaus und Einfamilienhäuser mit Gärten. Im Sommer muß es sehr schön sein: sonnige Höfe, Birkenalleen und Erholungsplätze. Ruth sagt, daß sie oft hier herausfährt mit ihrem weißen VW, um frische Luft zu schöpfen. Der VW hat an diesem Tag eine Panne, und wir fahren mit der Straßenbahn zurück. In der Straßenbahn ein Junge von etwa vierzehn Jahren. Die Straßenbahn sehr voll. Der Junge sitzt. Eine dicke Frau vor ihm regt sich auf. »Der starke Bengel darf sitzen, was? Weil er sich ausruhen muß, das arme Kind.« Ich will etwas sagen, aber Ruth hindert mich daran. An meiner Stelle spricht der Schaffner, der den Jungen kennt. Er versucht, zu vermitteln: »Tja, wissen Sie, für einen, der sein Gleichgewicht nicht halten kann, ist das Stehen schwer!«
Die dicke Frau empört sich: »Und so was sagen Sie auch noch? Sie nehmen auch noch seine Partei?« Alle im Wagen sehen jetzt her. Eine andere Frau erkennt den behinderten Jungen. Sie sagt: »Ach, das ist doch der Älteste von Lenkes. Der ist doch nicht ganz …« Und sie tippt mit einem Finger an die Stirn. Nun schauen alle den Jungen an, murmeln miteinander, auch ein paar Stimmen für den, Jungen werden laut. Darauf ruft die Dicke empört: »Woher soll ich denn das wissen? Warum tragen diese Idioten nicht irgendein Zeichen – eine Armbinde zum Beispiel –, dann weiß man doch wenigstens gleich …«
Ruths Hand krallt sich in die meine, denn sie hat bemerkt, daß ich mich einmischen will. Ruth sagt: »Ruhig, Herr Norton. Das ist die Einstellung von Millionen, nun haben Sie es einmal erlebt.«
»Aber dagegen muß doch etwas geschehen!«
»Dagegen müßte etwas geschehen«, sagt Ruth.
Am nächsten Tag findet Ruth die Zeit für gekommen, eine erste TBGB bei Babs anzuwenden.
TBGB – das ist die Abkürzung für ›Testbatterie für geistig behinderte Kinder‹. Ruth sagt, um mich zu beruhigen, das sei nichts weiter als eine erste ›Status‹-Aufnahme. Sie muß wissen, wie es um Babs jetzt bereits steht. Ich darf bei den Tests anwesend sein. Es geht hier um eine von Spezialisten unter der Leitung von Professor Dr. Curt Bondy vom Psychologischen Institut der Universität Hamburg zwischen 1963 bis 1968 entwickelte Bestandsaufnahme eines erkrankten Kindes, wobei natürlich Alter, Geschlecht, Zustand vor der Erkrankung und vieles andere berücksichtigt wird hinsichtlich der Intelligenz, der Sprache, der Merkfähigkeit und der Motorik. Viele der Untersuchungen leiten sich von amerikanischen Arbeiten ab.
Intelligenztest: Unter mehreren farbigen Objekten auf einer Tafel soll das Kind dasjenige zeigen, das nicht zu den anderen paßt, das ›anders‹ ist. Es gibt hundert Tafeln, der Test dauert jedoch höchstens vierzig Minuten; eine zeitliche Begrenzung ist allerdings nicht vorgesehen. Die Aufgaben werden schwerer. Beispiel: Bunte Häuser und Gegenstände, die in den Häusern vorkommen – dann plötzlich eine Hand, und darunter ein Gegenstand aus einem Haus.
Babs erledigt die hundert Tafeln ohne Fehler in zweiundzwanzig Minuten mit dem Kommentar: »Für Babys.« Ihre Stimme klingt allerdings noch sehr undeutlich.
Nächster Tag weiterer Intelligenztest nach Raven. Bei insgesamt sechsundvierzig Aufgaben muß Babs in einem vorgegebenen geometrischen Muster das fehlende Musterteil mit den richtigen Plättchen ausfüllen. Also: Dreiecke, Kreise, Halbkreise, Kreissegmente und schwierigere Musterteilchen mit zum Teil komplizierten Formen. Wurde nach dem amerikanischen ›Coloured Progressive Matrices‹-Test weiterentwickelt. Babs hat nicht die geringsten Schwierigkeiten, alle geometrischen Musterteilchen richtig unterzubringen.
Wie immer in Gegenwart von Kindern lächelt Ruth. Als sie sieht, wie leicht die Arbeit Babs von der Hand geht, strahlen die beiden sich an.
Nächster Tag.
Prüfung des Wortschatzes. Hier wurden für die Testbatterie siebzig Aufgaben des ›Peabody Picture Vocabulary Test‹ von Dunn ausgewählt. Bei diesen
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