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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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in jenen Monaten, wie gesagt, sehr häufig mit Sylvia zusammen in Paris oder Madrid. Sie stand unter einer immer größer werdenden seelischen Belastung, und oft bewunderte ich die Kraft, mit der sie dennoch exakt und vorbildlich ihre Arbeit zu leisten vermochte. Es soll, mein Herr Richter, wahrhaftig bei Ihnen nicht der Eindruck entstehen, daß mir meine Situation – zwei Frauen, eine völlig ungewisse Zukunft, die Verantwortung für Babs – gleichgültig war oder daß ich Sylvia mehr und mehr aus meinen Gedanken verdrängte. Im Gegenteil: Ihre Stärke, ihr Mut und ihre Tapferkeit nötigten mir Respekt ab. Das alles kann wirklich nur jemand begreifen, der die Beurteilung von Wert oder Unwert, von Moral oder Unmoral seiner Mitmenschen zum Beruf erkoren hat wie Sie, mein Herr Richter. Begreifen wohl auch, daß Sylvia es strikt ablehnte, mit mir intim zu verkehren, obwohl sie, wie sie mir immer wieder sagte, mich liebte. Schizophrenie? Ambivalente Gefühle? Ich weiß es nicht. Das alles sind nur Worte. Was zählt: Ich liebte Ruth.
    Die Schweigeminute zum Gedenken an den großen verstorbenen Schauspieler Alfredo Bianchi war zu Ende. Ohne Übergang– wir befanden uns in Rom, mein Herr Richter! – setzten die Ovationen für Sylvia wieder ein.
    Ein Irrenhaus da unter uns im Parkett, da neben uns in den Logen. »Boy, oh boy!« stöhnte Joe Gintzburger. Ich glaube, das war bislang der glücklichste Abend seines Lebens.

61
    D rei Uhr früh am 19. Mai 1972.
    Sylvia und ich waren seit einer halben Stunde in unserem Appartement im Hotel BERNINI-BRISTOL, sie im Schlafzimmer, ich im Ankleideraum. Der Salon war so voller Blumengebinde, Orchideengestecke und Bodenvasen voller Blumen, daß man sich kaum bewegen konnte. Der Geruch der vielen Blüten drang betäubend zu mir in den Ankleideraum, in dem auch unsere Koffer standen. Ich hatte meine weiße Smokingjacke ausgezogen, die Fliege abgenommen, den Kragenknopf geöffnet und packte.
    Ich packte nur einen Koffer voll, das andere konnte nach Paris geschickt werden. Auch die Nacht brachte kaum Kühlung. Mir lief der Schweiß über den Körper. Ich zog das Smokinghemd aus, die Smokinghose. Vom anderen Ende des riesigen Appartements hörte ich Sylvia schluchzen. Sie war sehr betrunken und sehr unglücklich.
    Nach der Premiere hatte es ein Festbankett gegeben, arrangiert von Carlo Marone (dem Masselmolch, dem also Alfredo Bianchi doch noch zeitgerecht abgenippelt war). Tischherr Sylvias: der italienische Staatspräsident. Stundenlanges Essen. Stundenlanges Trinken. Toasts auf Sylvia. Toasts auf den Film. Toasts auf Alfredo Bianchi. Toasts auf Joe. Sogar einen Toast auf mich. Und dann natürlich wieder und wieder neue Toasts auf Sylvia. Alles betrunken zum Schluß. Ich bewunderte Sylvia wegen ihrer Haltung, mein Herr Richter. Erst, als wir unser Appartement erreicht hatten, brach sie zusammen.
    »Babs … Babs … mein Kind …«
    »Es geschieht doch alles, um ihr zu helfen, Hexlein.«
    »Ich weiß. Ich weiß, Wölfchen. Aber Babs wird nie wieder gesund werden. Nie wieder!« Wenn sie vorher unmenschlich beherrscht gewesen war, dann ließ sie sich jetzt, sehr betrunken, unmenschlich gehen. Sie schrie, daß ich Angst hatte, andere Gäste würden sich beschweren. »Ein Idiotenkind! Ein Idiotenkind wird Babs bleiben, immer! Und es ist meine Schuld …«
    »Hör auf!«
    Ich habe Sylvia niemals geliebt, mein Herr Richter, das wissen Sie. Doch in dieser Nacht in Rom, da empfand ich zum erstenmal etwas für Sylvia. Sie war ganz plötzlich ein menschliches Wesen für mich, das litt, zu dem ich Zuneigung empfand, sie war nicht länger die Person (oder Un-Person), an die ich mich gehängt hatte, um fein leben zu können. Heute weiß ich, daß dieses plötzliche Gefühl mit Babs zusammenhing, mit der mysteriösen Kraft der Schwächsten, alles zu verändern, damit, daß zuletzt das weiche Wasser den härtesten Stein aushöhlt – damals wußte ich es noch nicht.
    »Bitte, bitte, Sylvia, hör auf zu weinen …«
    »Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Ich kann nicht. Geh! Gehweg! Du mußt doch weg. Du mußt doch packen. Laß mich allein!«
    So ging ich und packte und hörte dabei Sylvia weinen. Als der Koffer gepackt war, schloß ich ihn und bemerkte, daß das Weinen aufgehört hatte. Ich ging durch den Salon in das Schlafzimmer und sah, daß Sylvia eingeschlafen war. Angezogen lag sie auf dem breiten Bett, das Gala-Kleid verdrückt, sie trug noch ihren ganzen Schmuck, das Haar lag wild

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