Niemand ist eine Insel (German Edition)
ist ein Bub …«
Immer noch keine Reaktion.
Stärker eingestellt der Apparat! Noch lauter die Stimme in den Kopfhörern!
»Das ist ein Bub …«
Jetzt reagierte Babs.
Endlich!
»Isub …«, sagte sie.
»Das ist ein Bub …«
»Asisub …«
Diese phonetische Wiedergabe der Bemühungen, die Babs unternahm, soll Sie nicht verwirren, mein Herr Richter, der Sie bisher immer gelesen haben, wie ich in normaler Form aufgeschrieben habe, was Babs sagte. Ich tue es hier ein einziges Mal, um zu zeigen, wie ihre Sprache klang. Man verstand sie schon, manchmal mit Mühe. Und seit Beendigung ihrer totalen Stummheit konnte Babs kaum Sätze mit mehr als drei, keinesfalls Sätze mit sechs oder mehr Wörtern bilden. Es blieb immer einiges zu erraten, aber wenn man täglich mit dem Kind zusammen war, dann erriet man es mühelos. Im übrigen benützte Babs die Sprache kaum oder gar nicht, um zu zeigen, daß sie jemanden ablehnte, daß sie jemanden gerne hatte, daß sie sich freute oder sich fürchtete. Das war immer weitgehend ihrer Gestik überlassen, alles Affektive.
Also wieder: »Das ist ein Bub …«
Zehnmal vielleicht.
Dann sagte Babs mit vor Anstrengung gerunzelter Stirn: »Dasiseinbub …« Es war immer noch schwer zu verstehen.
»Wie lange geht das so?«
»Viele Jahre, Herr Norton.«
»Und jeden Tag Unterricht?«
»Jeden Tag. Man muß das aufbauen, langsam, ganz vorsichtig … nie zu lange … weil diese Kinder doch so schnell ermüden …«
»Sie müssen unendliche Geduld haben, Fräulein Gellert.«
»O ja, Herr Norton.«
Sie hatte alle Geduld der Welt, es war nicht zu fassen, ich habe es nie gefaßt, die Geduld von Fräulein Gellert, diese unendliche Geduld.
Alle Geduld der Welt …
Andere Karte nach Erreichen einer bestimmten Leistung.
Morgen dasselbe wieder. Monatelang täglich dasselbe wieder, mit immer anderen Karten. Und dann, langsam, mit. anderen Methoden.
Zum Beispiel: »Wo ist denn die Karte mit dem Auto?«
Oder: »Was ist denn auf dieser Karte drauf?«
Oder: »Jetzt erzähl du mir mal etwas. Du darfst dir die Karte aussuchen!«
Oder absichtlich falsche Behauptungen, in der Hoffnung, auf Widerspruch: »Das ist eine Eisenbahn, die schwimmt im Fluß.«
»Keineisenban! Schiff! Eisenban kanich schwimm …«
Sie freute sich ehrlich und wirklich, mein Herr Richter, das will ich gerne beschwören – sie und alle, die hier arbeiteten, wenn sie die kleinste Besserung, die richtige Reaktion, den winzigsten Fortschritt bei einem Kind feststellten. Es gibt Frauen, die freuen sich, wenn ihr Liebhaber ihnen einen Nerz schenkt. Und es gibt Frauen – aber das wußte ich erst, seit Babs erkrankt war, seit ich Ruth kannte, seit ich Heroldsheid kannte –, die freuen sich, mehr und aufrichtiger, wenn ein hirngeschädigtes Kind zum ersten Mal allein auf die Toilette gehen kann (nachdem man es drei, vier, acht Jahre dorthin geführt und ihm geholfen hat) und seine Geschäfte selbständig, ohne Hilfe, erledigt.
Doch diese Frauen, diese Mädchen, diese Männer waren im Dunkeln, und die anderen waren im Licht. Und man siehet die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.
8
Heroldsheid, 24. August 1972
Sehr geehrter Herr Direktor Riehle!
Bitte werfen Sie diesen Brief und die beigefügte Broschüre nicht sofort weg! Nehmen Sie sich – wir wissen, wie überlastet Sie sind – die Zeit, den Brief und die Broschüre zu lesen.
Sie haben gewiß schon einmal von der »Sonderschule Heroldsheid« gehört. Sie wissen – oder Sie können es der Broschüre entnehmen –, daß diese Schule die letzte Hoffnung und die einzige Rettung für fast hundert Kinder ist, die hier trotz schwerer Behinderungen einen Weg ins Leben finden. Viele weitere Hunderte von Kindern wollen aufgenommen werden. Ihre Eltern betteln und flehen darum, stehen auf Wartelisten. Mehr Kinder können in unserer Schule aber nicht unterrichtet werden.
Vor drei Jahren, sehr geehrter Herr Direktor Riehle, hingen Schicksal und Zukunft von 94 Kindern, die damals hier lebten, besser: lernten zu leben, an einem hauchdünnen Hoffnungsfaden. Unsere Schule stand vor dem Bankrott. Die Verantwortlichen …
Telefon.
Ich hob ab.
»Ja?«
»Kommen Sie bitte runter, Herr Norton, Anruf aus Madrid.« Rektor Hallein.
»Was denn? Schon wieder? Ich wurde doch erst zu Mittag von Mrs. Moran ange …«
»Es ist nicht Mrs. Moran. Es ist ein Mann.«
Ich rannte die schmale Treppe hinunter, vorbei an mysteriösen, unheimlichen, wunderbar
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