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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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allein – Ruth hob sie auf den Schoß. Babs legte den Kopf an Ruths Brust. Babs sagte kein Wort. Man kann auch durch die schlimmste Schielbrille sehen, daß Augen vor Glück strahlen.
    »Wie kann Babs hier seit Monaten mit mir leben und zufrieden sein, und wie kann sie sich immer, wenn es nur eine Möglichkeit gibt, so an dich drücken und dich küssen und streicheln und schnurren wie eine Katze vor Behagen, wenn auch du sie küßt und streichelst? Woher kommt diese Zuneigung zu dir?«
    »Sie fühlt sich geborgen.«
    »Aber sie hat eine Mutter! Niemals, Ruth, niemals noch hat sie nach der Mutter auch nur gefragt!«
    »Sie wird gar nicht mehr wissen, wer diese Mutter ist. Sicher nicht. Sie weiß auch nicht, wer sie selbst in Wirklichkeit ist und wie sie heißt. Nur an ihren Vornamen erinnert sie sich. Weil wir sie doch alle immer so rufen und gerufen haben. Und deinen Vornamen kennt sie. Bei meinem bin ich nicht sicher. Aber sie erkennt mich. Sonst hat sie alles vergessen. Sie klammert sich an Menschen, die ihr Liebe geben, Wärme, Geborgenheit …«
    »-borgenheit«, sagte Babs, den Kopf an Ruths Brust.
    Die Sonne begann zu sinken. Im Westen färbte sich der blaue Himmel zuerst rosa, dann immer röter, zuletzt flammend rot. Er wurde immer blasser über uns, milchig und erschien mir unendlich groß, so groß, wie er mir noch nie erschienen war, und ich sah drei sehr kleine Schäfchenwolken.

9
    L ove is a many-splendored thing …‹
    ›Alle Herrlichkeit auf Erden‹!
    Das Thema und die Musik dieses Films erklangen – gespielt vom Orchester Ray Conniff. ›Hollywood in Rhythm‹ hieß die Langspielplatte mit dieser Komposition darauf.
    Die Platte – und andere von Ray Conniff – hatte ich in Nürnberg gekauft, weil Babs diese Musik am meisten liebte. Drüben in der Schule (sie lag nun leer, verlassen, abgesperrt, ich hatte alle Schlüssel, wie immer) gab es viele Platten und mehrere Plattenspieler. Da gab es auch Musiktherapie. Weil hirngeschädigte Kinder gern Musik hören, weil es gut für sie ist. Musik lockert, nimmt Aggressionen, Musiktherapie ist etwas ganz Wichtiges. Einen Plattenspieler hatte mir Rektor Hallein geliehen.
    Wir waren jetzt in dem kleinen, armselig eingerichteten Haus. Bad, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, alles voll abgenutzter alter Möbel, im Wohnzimmer lag ein Fleckerlteppich, stand ein Fernsehapparat. Alles so, wie der Hauswart es zurückgelassen hatte. Ruth saß neben mir auf einem alten Sofa, dessen Sprungfedern krachten, und dessen Bezug an mehreren Stellen aufgerissen war – die Füllung quoll heraus.
    Und immer weiter ›Alle Herrlichkeit auf Erden‹ …
    Babs war in Bewegung geraten. Mit ihrem lahmen Bein konnte sie natürlich nicht tanzen, mit ihrem armen Gehirn konnte sie natürlich keine der Musik entsprechenden Bewegungen ausführen, aber sie war von dieser Musik doch so fasziniert, daß sie, mit häßlich abgewinkelten Beinen auf dem Fußboden sitzend, mal im Rhythmus, mal nicht im Rhythmus des Liedes ihren Körper zu bewegen begann, sich hin und her wiegte, die Arme kreisend bewegte und dazu immerfort glücklich lachte. Sie erhob sich auch, stolperte nach ein paar Schritten und fiel hin. Sie lachte weiter. Gewiß sah das alles eher gräßlich aus – aber nicht für mich und nicht für Ruth.
    »Du bist so gut«, sagte Ruth leise.
    »Ach was«, sagte ich ebenso.
    »Du bist so gut«, wiederholte sie. »So gut für Babs. Was hat Sylvia im Film zu sagen? Wie heißt das bei Brecht zum Schluß?«
    »›Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind‹«, sagte ich beklommen, »›also die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen.‹«
    »Ja«, sagte Ruth.
    Dann sahen wir beide zu, wie Babs sich immer weiter mühte, immer wieder hinfiel, uns anlachte mit ihrem schrecklichen, geliebten Gesicht, und wir lachten zurück und klatschten, und Babs mühte sich zur Musik von ›It might as well be Spring‹. Danach war sie erschöpft und blieb liegen, schwer atmend, auf dem Rücken.
    Ich stellte den Plattenspieler ab.
    Indessen hob Ruth Babs auf, die ihre Ärmchen um den Hals der Ärztin schlang. Sie drückte sich an Ruth, und Ruth streichelte sie und gab ihr viele kleine Küsse auf die Wangen, und Babs sah zu mir – die Brille war zu Boden gefallen, die Kinderaugen schielten mich an, und Babs fragte strahlend: »Schön?«
    »Wunderschön, Babs«, sagte ich. »Ganz wunderschön.«

10
    E s kam die Nacht.
    Der Himmel war übersät von unzähligen Sternen.

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