Niemand ist eine Insel (German Edition)
geschickt …«
»Ach ja, natürlich. Jetzt im Sommer werden die Menschen plötzlich gebefreudig.«
»Unberufen, ja. Allerdings sind es nicht immer dreihundertfünfzig Mark wie bei Frau Kreuzwendedich. Ich muß mich auch für die zehn Mark für Helga und die fünfzehn Mark für Peter und die fünfundzwanzig Mark fünfzig für Erika bedanken … Haben Sie eine Erklärung dafür, wie es zu diesen fünfzig Pfennig gekommen ist?«
»Vielleicht war keine ganze Mark mehr übrig«, sagte Hallein. »Das sind freundliche Menschen, die uns da helfen. Und wenn sie uns mit fünfzig Pfennig mehr helfen. Die Menschen – die meisten – sind freundlich. Man muß nur auch freundlich zu ihnen sein.«
Ich legte den Hörer auf. Feiner Kerl, dieser Rektor. Der einzige, der die Wahrheit über Babs und mich hier kannte. Deshalb konnte ich immer nur von seinem Büro aus telefonieren. Er ließ es unversperrt, auch nachts.
Die Kinder hatten ihren Mittagsschlaf beendet. So viel Lärm, so viel fröhliches Geschrei! An einem Ort mit so viel Elend, dachte ich.
Der rothaarige Reporter vom NÜRNBERGER MORGEN wird das alles nicht fassen können, was er nun sieht. Ich habe es zuerst auch nicht fassen können.
Ruth untersucht nun die Kinder, dachte ich.
Die Schule besaß ein Laboratorium im Keller. Schwierigere Untersuchungen konnte man natürlich nicht machen, da mußte das Kind schon nach Nürnberg ins Sophienkrankenhaus gebracht werden. Aber Ruth hatte die Berichte der Menschen, die jeden Tag mit den Kindern zusammen waren – über ihre Fortschritte, Rückschritte, Ängste, Unruhe oder gestiegene Konzentrationsschwächen (alle diese Kinder litten an großer Konzentrationsschwäche, auch Babs natürlich, und daran, daß sie sehr leicht ermüdete), Ruth konnte neue Medikationen festlegen, neue therapeutische Maßnahmen.
Und Babs war jetzt bei Fräulein Gellert.
Wie jeden Tag um diese Zeit.
In einem abgelegenen Zimmer im ersten Stock arbeitete Fräulein Vera Gellert, sehr hübsch, noch jung, Psychologin und geprüfte Logopädin. Das Wort kommt aus dem Griechischen, Logopädie, das bedeutet: Heilerziehung von Sprachkranken. Alle Kinder kamen zu Fräulein Gellert, alle hier. Fräulein Gellert hatte Angst vor Männern. Sie versuchte, das nicht zu zeigen. Man bemerkte es sofort.
Fräulein Gellert wurde, wie ich gesehen hatte, jeden Abend von einer Erzieherin in einem zerbeulten VW nach Nürnberg mitgenommen, und morgens kam sie mit dieser Erzieherin an. Rektor Hallein hatte mir die Geschichte erzählt: Fräulein Gellerts Vater war in Rußland gefallen. Sie hatte ihn nie auch nur gesehen. Die Mutter heiratete 1954 zum zweiten Mal. Fräulein Gellerts Stiefvater bereitete der Mutter in dieser Ehe die Hölle – neun Jahre lang. Vera Gellert fürchtete und haßte ihn. Endlich wurde die Ehe geschieden. Übermächtig groß war Vera Gellerts Liebe nun zu ihrer Mutter. Übermächtig groß war nun aber auch ihre Furcht vor Männern – sie hatte als Kind soviel männliche Roheit miterlebt. Sie studierte – sie wollte einen Beruf haben, der sie mit Kindern zusammenbrachte, nur mit Kindern, mit kranken Kindern!
Psychologinnen gibt es viele. Logopädinnen gibt es wenige. Fräulein Gellert war diplomierte Logopädin.
Während ich tippte, dachte ich daran, wie sie mit Babs zu arbeiten begonnen hatte, wie sie noch immer mit ihr arbeitete, ich wußte es. So war es am Anfang gewesen …
Da saß Babs mit mächtigen Kopfhörern an einem Tisch im Arbeitsraum von Fräulein Gellert. Die saß an der Längsseite des Tisches. Vor ihr stand ein Apparat, der an ein altmodisches Telefon erinnerte. Er hatte eine Meßskala und zahlreiche Knöpfe. Vor dem Apparat befand sich ein Mikrofon. Vor Babs lagen viele Karten – spielkartengroß – mit den verschiedensten Zeichen: Figuren, Gegenständen, Bäumen, Blumen, Straßenbahnen, Kuchen, Häusern, Flüssen – sehr viele solcher Karten gab es, auf vielen wurden kleine Ereignisse festgehalten.
Eine von zahlreichen Methoden, die Fräulein Gellert anwendete. Die einfachste. Sie hatte einen ganzen Schrank voll anderer Hilfsmittel.
Mit den Karten geht das so, und es ging wohl auch im Moment so …
Fräulein Gellert legte Babs eine Karte hin und sprach sehr deutlich in das Mikrofon, wobei sie eine Fingerspitze auf eine Figur legte, welche die Karte zeigte: »Das ist ein Bub …«
Keine Reaktion.
Fräulein Gellert drehte an den Skalenknöpfen. Ihre Stimme kam nun lauter aus den Kopfhörern zu Babs.
»Das
Weitere Kostenlose Bücher