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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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traurig für Sylvia, das alles, wirklich …«
    »Weißt du«, sagte Ruth, während sie in eine falsche Straße einbog, »mehr oder weniger traurig ist am Ende jeder, der sich über den reinen Broterwerb hinaus noch eigene Gedanken macht. Du, ich, wir alle. Aber keiner von uns könnte ohne diese allem zugrunde liegende Trauer leben, ohne die es auch keine wirkliche Freude gibt. Was hast du?«
    »Ach gar nichts. Wir hätten nur nach rechts abbiegen müssen.«
    »Sicherlich bin ich hier schon fünftausendmal gewesen! Wieder nehme ich die falsche Straße. Aber wir kommen auch so nach Heroldsheid. Es wird nur länger dauern. Soll ich umdrehen?«
    »Nein. Heute ist Sonntag. Wir haben Zeit.«
    »Ich drehe doch um«, sagte Ruth, über sich selbst empört. »So geht das einfach nicht weiter mit mir!« Sie hielt und begann zu wenden. Dabei sagte sie: »Natürlich werden wir Sylvia nicht verbieten können, Babs zu sehen. Wir werden es so geschickt und ungefährlich für beide anfangen wie möglich – nach Heroldsheid kann Sylvia nicht kommen, das ist ihr doch hoffentlich klar, da erkennt sie jeder.« Sie hatte den Wagen gewendet und wollte wieder anfahren.
    »Halt, bleib stehen!«
    »Warum?«
    »Da ist ein kleines Tier …«
    »Wo?«
    Ich preßte sie an mich und küßte sie, und das wurde ein langer Kuß. Zwei Wagen fuhren an uns vorbei. Junge Leute winkten und lachten.
    »Weißt du«, sagte Ruth, als sie zuletzt meinen Armen entglitt, »wir sind doch trotz allem sehr glücklich, wir zwei, wie?«
    »Mhm.«
    »Und das ist schlimm. Sehr schlimm. Darum wird es ein böses Ende mit uns nehmen.«
    »Warum?«
    »Weil wir etwas Schlechtes tun. Du gehörst zu Sylvia.«
    »Ich gehöre zu dir!«
    »Und es wird doch ein schlimmes Ende nehmen.«
    »Ja«, sagte ich, »sicherlich.«
    Als wir dann in Heroldsheid waren und ich das verschlossene Gittertor (Sonntag!) aufgeschlossen hatte, kam mir Babs entgegengehumpelt, mit ihrer Schielbrille, eilig, lachend.
    »Phil!«
    Ich kniete nieder, und sie umarmte mich und drückte sich an mich, wieder und wieder. Die alte Frau Grosser trat aus dem kleinen Haus, in dem wir wohnten.
    »Mein Gott«, sagte Frau Grosser. »Mein Gott. Immer, wenn ich seh, wie lieb ihr euch habt, muß ich an meinen Hansl denken. Das war auch ein so liebes Kind.«
    Er war noch kein sehr großer Hansl gewesen, als er starb, im fernen Rußland.

    Zuerst hatte es in der ›Sonderschule‹ natürlich auch Ferien gegeben. Da blieben die Kinder dann bei den Eltern. Mit einem behinderten Kind zu verreisen, ist eine schlimme Sache, manche Eltern hatten es versucht. Die Erfahrungen, die sie dabei hatten machen müssen, waren so arg gewesen, daß ich sie nicht aufschreiben will. Nicht aufschreiben kann. Es gibt auch gute Menschen. Diese Eltern hatten Pech gehabt.
    Aber weil sie Pech gehabt hatten, waren sie an den sogenannten ›Elternbeirat‹ der Schule herangetreten mit der Bitte, die Kinder doch auch während der sonst üblichen Ferien für normale Kinder in Heroldsheid lassen zu dürfen. Es wurde dann eben kaum gelernt, sondern viel im Freien gespielt. Die Eltern konnten mit den Kindern nicht verreisen. Bei sich daheim lassen wollten sie ihre Kinder auch nicht längere Zeit – Nachbarn können sehr niederträchtig sein, die Kinder von Nachbarn noch viel niederträchtiger. So lief der Schulbetrieb also das ganze Jahr durch – und unsere Lehrer, Erzieherinnen, alle, nahmen ihren Urlaub eben zu einer Zeit, wo sie entbehrt werden konnten. Auch der größte Teil des Personals machte übrigens keine Ferien und blieb lieber in der ›Sonderschule‹ – ausgenommen etwa Frau Pohl oder einige andere Mitarbeiter, die Familien und Kinder hatten. Nur zu den großen Feiertagen und an den Wochenenden war die Schule geschlossen.
    An dem Tag, an dem ich von meiner Madridreise heimkehrte, hatte Babs eine Überraschung für mich. Sie zeigte sie mir stolz, als wir in das kleine Haus kamen. Der Wohnraum war voller beschmierter, zerknüllter Papiere. Eines lag auf dem Tisch, und auf dem Papier lag eine gelbe Blume. Mit Gesten und Worten, die schwer zu verstehen waren, erklärte Babs, daß sie die Blume gepflückt und was sie für mich als Geschenk vorbereitet hatte. Es war ein ganz billiges Papier, und darauf stand in lauter Einzelbuchstaben, sehr krakelig, aber durchaus lesbar:
    PHILIP
    Ich wußte, daß Babs seit Monaten Schreibunterricht erhielt. Ich wußte, daß ihr das Schreiben entsetzlich schwergefallen war. (Das Wiedererlernen des

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