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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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ist kein Platz da …!«
    »Ja, der Ihrige hat zur Bundeswehr müssen!.Die Lumpen hier, die feigen, die Drückeberger, die Verweigerer, die machen sich ein schönes Leben! Meiner geht noch aufs Gymnasium … Jeden Morgen muß er nach Nürnberg fahren mit der Bahn, dann wieder zurück … Und so was wird mit dem Autobus rumgefahren, von Tür zu Tür …«
    Freitag, 1. September 1972, 10 Uhr 30.
    Die Lumpen, die feigen, die Drückeberger, das waren zwei Kriegsdienstverweigerer, die unbewegt zuhörten oder so taten, als hörten sie gar nicht zu. Die, die beim Hitler gleich vergast worden wären, waren neun Kinder, darunter Babs, ihre Freundin Jackie, ihr Freund, der gelähmte Alois, noch ein Rollstuhlkind, ein Mädchen – waren jene Kinder, die so lange, aufgeregt und begeistert das Schreiben weniger Worte für diesen großen Tag geübt hatten.
    Der Ort: Das neue und (viel zu) große Postamt des kleinen Städtchens Heroldsheid. Alles war lange vorbereitet worden. Die Kinder, so sah es der Lehrplan vor und so sagte jedem Gutwilligen es die Vernunft, mußten auch in die Umwelt der Schule gebracht werden, mußten lernen, sich mit Tätigkeiten vertraut zu machen, die sie im Leben unbedingt brauchen würden.
    Tagelang hatten sie nun also Päckchen gemacht, mit größter Mühe verschnürt, ihren Namen und die Wörter ›Sonderschule Heroldsheid‹ sowie die Adresse ›Sonderschule Heroldsheid, Herrn Rektor Heinz Hallein‹ auf Zettel geschrieben. Stundenlang, tagelang hatte es gedauert, bis diese Zettel geschrieben, bis sie auf die Pakete – Schuhkartons, Käsekartons, Schokoladekartons, in denen irgend etwas lag – geklebt gewesen waren.
    Wir hatten den kleinen Bus der AKTION SORGENKIND des Zweiten Deutschen Fernsehens genommen. Im Postamt gingen sie, humpelten sie, wurden sie gefahren zu den Schaltern, um die Pakete aufzugeben. Ein Kind half dem andern. Jeder Handgriff war eine Großtat. Babs, mit ihrem geschwächten linken Arm, tat sich sehr schwer – aber ich half ihr nicht. Sie – alle hier – mußten lernen, was ein Postamt ist, wie man sich dort benimmt. Sie mußten noch so vieles lernen, wenn sie sich in dem Leben da draußen zurechtfinden wollten.
    Es waren drei Schalter geöffnet, hinter zweien saßen Frauen, hinter einem ein Mann. Sie kannten unsere Besuche schon, sie waren vorbereitet. Der Beamte rief den Erwachsenen zu: »Haben Sie denn kein Herz im Leib? Wenn das Ihre Kinder wären! Was würden Sie da sagen?«
    Er wurde niedergeschrien von jenem tobenden Herrn, dessen Sohn jeden Morgen mit der Bahn nach Nürnberg fahren mußte. Der Beamte wandte sich an mich: »Das ist noch nie vorgekommen, Herr Norton, noch nie!«
    Die Beamtinnen attackierten die wütenden Erwachsenen auf ihre Weise: »Haben Sie doch Mitleid! Das sind Kinder, arme Kinder! Was sind Sie bloß für Menschen?«
    »Seien Sie ruhig«, kreischte ein Weib. »Wir halten diese Bälger auch noch am Leben! Für so was schmeißt der Staat Geld hinaus, Geld von unseren Steuern! Und unsere eigenen, gesunden Kinder, werden die so gehätschelt? Einen Dreck werden die!«
    »Hören Sie mal …«, begann ich, aber ein Riese schob sich vor die Frau und hob drohend gegen mich eine Faust.
    »Sie halten jetzt den Mund, ja? Jedes Wort stimmt, das die Dame da sagt.«
    »Seien Sie menschlich! Seien Sie doch bitte, bitte menschlich!« rief eine kleine graue Frau im Hintergrund.
    »Sie halten auch den Mund, ja?«
    Babs preßte sich an mich.
    »So böse … warum?«
    Nun weinten ein paar Kinder sehr laut. Ich sah einen Mann, der heftig gestikulierend in einer Zelle telefonierte – ich hatte eine Ahnung, mit wem.
    Die Frau von vorhin: »Als Putzfrau bin ich gegangen, jahrelang … Alles für den Paul … Ein Genie ist das, sag ich Ihnen! Wenn der Physik studiert, wird er den Nobelpreis kriegen, das weiß ich! Aber sie lassen ihn nicht! Keiner hilft ihm. Alle Plätze besetzt. Gefördert werden bei uns nur die Idioten!«
    Na also, da war das Wort endlich wieder.
    »Gehen können sie nicht, reden können sie nicht – aber natürlich, die müssen gefördert werden! Unsere nicht!«
    »Angst«, sagte Babs, zu mir aufblickend. Sie stand jetzt am Schalter vor dem netten Beamten. Sie schob ihm zitternd ›ihr‹ Paket zu. Schob ihm Geld zu. Erhielt Wechselgeld. Wußte natürlich überhaupt nicht, ob das Geld, das sie zurückbekam, auch stimmte. Keines von den Kindern, die, immer verschreckter, ihre Päckchen ablieferten, wußte es. Stets würde später –

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