Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
35 früh.
    »Goddamned, fucked-up situation«, sagte Bracken. Er war leicht betrunken.

    »Was hier los ist, will ich wissen!«
    »Frag den Doktor«, sagte Bracken und sah mich heimtückisch an. Er hockte auf der Lehne eines Diwans, neben einem Tisch mit vielen Flaschen, und trank sein Glas leer. Danach rülpste er. Clarissa begann zu weinen.
    »Herr Doktor Lévy! Was machen Sie hier?« fragte ich.
    »Ich wurde gerufen«, sagte der kleine, völlig kahle Mann mit den dicken Brillengläsern und dem unendlich traurigen, unendlich gütigen Gesicht.
    »Von wem?«
    »Von Monsieur Bracken.«
    »Weswegen?«
    »Wegen Babs.«
    »Was ist mit Babs? Nun reden Sie schon! Sagen Sie es mir!«
    Er sagte es mir: »Babs ist krank.«
    »Krank?«
    »Ja, Monsieur Kaven.«
    »Wo liegt sie?«
    »Wir haben sie ins Schlafzimmer von Madame gebracht, das wird ja nicht gebraucht. Als ich kam, ging es ihr sehr schlecht. Fieber neununddreißigfünf. Schüttelfrost. Sehr unruhig. Lichtscheu. Die Augenbindehäute entzündet. Auf der Wangenschleimhaut in Höhe der vorderen Backenzähne weiße Punkte, von roten Höfen umgeben. Das muß schon der dreizehnte oder vierzehnte Tag sein.«
    »Tag von was? Hören Sie auf zu weinen, Clarissa!«
    Sie hörte nicht auf.
    »Vom Beginn der Erkrankung«, sagte der kleine Arzt. »Bei dieser Krankheit gibt es ein uncharakteristisches Prodrom – ein Vorstadium, das dauert neun bis elf Tage. Dann geht es richtig los.«
    »Lieber Herr Doktor Lévy, wollen Sie mir endlich sagen, was Babs für eine Krankheit hat?«
    »Masern«, sagte der kleine Arzt. »Nur«, sagte er. »Hoffe ich.«
    »Was heißt das – nur? Was heißt das – hoffe ich?«
    »Ich bin mir nicht absolut sicher. Da sind … auch andere Symptome, die ich mir nicht erklären kann. Ich weiß nicht, ob es nur Masern sind. Masern sind es bestimmt, Monsieur Bracken war auch schon in einer Nachtapotheke und hat geholt, was wir jetzt brauchen. Aber wenn es noch etwas anderes ist … im Moment kann das noch niemand sagen.«
    »Wann kann man es denn sagen?«
    »Morgen hoffentlich. Ich möchte, wenn das so weitergeht mit diesen Symptomen – es ist zu kompliziert, Sie würden es doch nicht verstehen, pardon –, ich möchte dann unbedingt einen Kollegen hinzuziehen.« Er sagte verloren: »Ja, einen Kollegen.«
    Bracken trank wieder, rülpste wieder, sagte: »Gottverfluchte Scheiße. Wenn es Masern sind, muß Babs ins Krankenhaus. Die lassen sie nicht im Hotel. Kein Hotel läßt ein Kind mit Masern im Haus.«
    »Das LE MONDE schon. Ich rede morgen mit Maréchal. Er wird das arrangieren. Wir sagen, es ist nur eine Allergie, zum Beispiel. Und das bestätigen Sie uns doch, Herr Doktor, wie?«
    »Ja«, sagte der kleine Dr. Lévy. »Gewiß. Wenn es nur Masern sind. Gewiß nicht, wenn es nicht nur Masern sind.«
    Ich mußte die Augen schließen.

18
    I ch öffnete die Augen wieder.
    Da saß ich auf dem harten weißen Stuhl im Krankenzimmer 11 im dritten Stock der Klinik des Professors Delamare draußen in Neuilly, da war die weiße Kugel, die Sylvias Kopf barg, da waren die dünnen Plastikschläuche, die aus dem Verband kamen, dort, wo die Ohren sein mußten, und hinten im Nacken. Da war Sylvias heiße, schweißnasse Hand, die meine umkrallte.
    »… Laß mich in Ruhe … Romero! Scher dich zum Teufel … dreckiger Hund …«, hatte sie eben noch, haßerfüllt, englisch gesagt. Dann war sie weg gewesen, von einem Augenblick zum andern, schien zu schlafen. Und meine Gedanken hatten zu wandern begonnen, ich hatte mich an das erinnert, was tags zuvor bis wenige Stunden vorher geschehen war …
    19 Uhr 47 war es gewesen, als ich zuletzt auf die Uhr geschaut hatte, als Sylvia zu schlafen schien, als ich mich erinnerte an alles, während ich die Augen schloß.
    Nun hatte ich die Augen wieder geöffnet.
    Es war noch immer 19 Uhr 47 am 23. November 1971. Nur der Sekundenzeiger meiner Armbanduhr war vielleicht weitergeeilt um eine kleine Strecke, ich hatte nicht auf ihn geachtet.

19
    »… Wölfchen …«
    »Mein Hexlein?«
    Ihre Stimme formte Silben, Wörter, kleinste Laute, immer mühsamer nun. Die weiße Kugel bewegte sich nicht mehr. Nur das Wortgetropfe. Keine Bewegung des Körpers. Die Hand war von meiner geglitten, hing herab, weiß.
    »Sch … Sch … Schlüssel …«
    Ich stand auf und schlug die Decke ein wenig zurück, und tatsächlich, sie hatten ihr ein Kettchen um den Hals gehängt, an dem befand sich ein gezackter Schlüssel. Ich öffnete das

Weitere Kostenlose Bücher