Niemand ist eine Insel (German Edition)
außerordentliche Sendung, vor deren Beginn wir standen, war zunächst einmal eine EUROVISION-Sendung, die in zwei Dutzend Länder gleichzeitig übertragen wurde. Daneben gingen Bild und Ton über Satelliten in die Länder des Ostblocks, in den Vorderen Orient, nach Südostasien, nach Nord- und Südamerika – Satelliten übertrugen diese Sendung zu Empfang und Aufzeichnung rund um die Welt. Infolge des manchmal großen Zeitunterschiedes sollte das, was hier und jetzt gesprochen und gezeigt wurde, was man in ganz Europa jetzt, in dieser gleichen Sekunde sehen konnte, Stunden später, zur jeweiligen besten Abendsendezeit des Landes, von mehreren hundert Fernsehanstalten ausgestrahlt werden. Man rechnete, daß rund 700 Millionen Menschen diese Emission sehen würden – sofort oder einige Stunden später.
Eine solche Riesensendung – produziert vom kleinsten Fernsehsender der Welt! – war nur möglich gewesen durch das Zusammenwirken praktisch aller Regierungen, der UNICEF, der UNESCO und zahlloser anderer Gremien. Der Star des Abends war einer der berühmtesten und geliebtesten Menschen unserer Zeit – Sylvia Moran. Eigentlich waren es zwei Stars – gleichermaßen geliebt und berühmt über Grenzen, Weltanschauungen, Mauern, Ozeane, Wüsten, Gebirge, Religionen und Rassen hinweg, solcherart für kurze Zeit aus unserer so vielfach geteilten Welt eine einzige machend, zwei Stars: Sylvia Moran und Babs.
Der Welt kleinste Fernsehstation ist untergebracht im ersten Stockwerk des Hauses 16, Boulevard Princesse Charlotte. Zu ebener Erde und im Keller befinden sich die Räume der etwas größeren Radiostation Monte-Carlo.
TMC bringt keine gesprochenen Nachrichten, nur solche im Telegrammstil, die, tatsächlich auf Telegrammstreifen gedruckt, über den Bildschirm laufen. TMC bringt kaum jemals eigene Produktionen, sondern fast nur ausländische Serien und ›UN GRAND FILM CHAQUE SOIR‹ – ›EINEN GROSSEN FILM JEDEN ABEND‹. Dazu braucht man lediglich ein Vorführgerät. TMC kommt denn auch mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern aus. Der Mast, über den TMC ausstrahlt, steht über Monte-Carlo, auf dem höchsten Punkt des höchsten Berges, weit über der obersten der drei Corniches, den zwischen Fels und Meer in andauernden Kurven verlaufenden Küstenstraßen. Wenn man in Monaco lebt, braucht man keinerlei Fernsehgebühren zu bezahlen.
Natürlich hatte TMC keine technischen Möglichkeiten, eine weltweite Übertragung auch nur im Traum erwägen zu können. Aus diesem Grunde war TMC an diesem Abend mit der Eurovisionszentrale des ORTF, des französischen Staatsfernsehens in Paris, verbunden. Von dort ging die Sendung praktisch zurück nach Monte-Carlo, um hier empfangen zu werden, aber sie ging auch hinaus an die Sendeanstalten ganz Europas, über Satelliten, rund um die Welt.
… 3 … 2 … 1 …
… Zéro!
21 Uhr mitteleuropäischer Zeit in Monte-Carlo.
Der Regisseur dieser gewaltigen Sendung hob, neben seiner Assistentin sitzend, einen Finger.
»MAZ ab!« sagte der Regisseur leise.
Sylvia und Babs, die ihn sehen konnten, nickten. Sylvia befeuchtete noch einmal die Lippen. Babs winkte uns allen in der Kontrollkabine lachend zu. Mutter und Kind wußten, daß sie erst auf den Bildschirmen erschienen, wenn der Regisseur zwei Finger hob.
Was zuerst ausgestrahlt wurde, war bereits lange vor diesem Abend aufgezeichnet worden. Es flimmerte über die sechs Monitore – noch in sechs gleichen Einstellungen: Mit der bekannten Musik unterlegt, das Zeichen der EUROVISION – der verflochtene Strahlenkranz. Danach wechselte das Bild. Am gleichen Tisch, an dem zur Zeit Sylvia und Babs wartend saßen – auch im Studio gab es einen Monitor, der Ton dazu kam über Lautsprecher, Babs und ihre Mutter sahen auf den Bildschirm –, saß nun, vor einem anderen Hintergrund, ohne Blumen neben sich, im Smoking und gefältelten Seidenhemd, Frédéric Gérard.
Frédéric Gérard – er stand, während er sich selbst auf den Monitoren sah, hinter Rod und mir, hatte gleichfalls das Smoking-Jackett ausgezogen, das Hemd geöffnet. Er war noch keine vierzig Jahre alt – der beliebteste Sprecher und Animateur von RADIO und TÉLÉ MONTE-CARLO. Dieser Frédéric Gérard war, nach Shakespeare, zunächst einmal ›ein Bursche von unendlichem Humor‹. Dazu war er ein Bursche von unendlichem Charme. Er sah blendend aus. Er war, das hatte ich inzwischen erfahren, hilfsbereit, liebenswürdig und außerordentlich schlagfertig.
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