Niemand ist eine Insel (German Edition)
beiden und das Kindermädchen Clarissa saßen davor. Sahen und hörten Sylvia, wie mir Katie später erzählte.
»… auch die Behinderten möchten, wie die Gesunden, etwas leisten. Sie sind dazu nicht so in der Lage wie die Begabteren. Trotzdem wollen sie leisten, soviel sie eben nur können. Und wer von uns wagt es, einen Maßstab zu setzen, was Leistung ist?«
Kein Wort fiel. Die drei im HÔTEL DE PARIS sahen stumm auf die Mattscheibe. Joe hatte Katies Hand gepackt. Die drei Menschen saßen reglos …
»Eins, auf ganz groß!« sagte der Regisseur, der das Manuskript der Rede, die Sylvia auswendig gelernt hatte, vor sich hielt, zu seiner Assistentin und durchs Mikrofon in die Kopfhörer für den Kameramann I.
»… und darum«, sagte Sylvia, »müssen wir diesen Behinderten jede Möglichkeit geben, wenn wir uns menschlich nennen wollen! Und damit, meine lieben Freunde, sind wir beim Kern der Sache …« Babs legte eine Hand auf die der Mutter. Sylvia lächelte die Tochter an. Babs lachte lautlos zu ihr auf. Sylvia sah wieder in die Kamera. »Dank der Fortschritte der Medizin bleiben von Jahr zu Jahr in der Welt Hunderttausende von Kindern am Leben, die vor kurzer Zeit noch gestorben wären. Geistig behindert sind diese Kinder – aber sie bleiben am Leben! «
»Scheiße nochmal«, sagte Bracken in der Regiekabine zu mir. »Warum sollen SEVEN STARS immer wieder den ganzen Rebbach machen, und Sylvia zahlt sich blödsinnig an Steuern? Mit dieser Fernsehsendung ist sie so groß wie noch nie! Weißt du, was Sylvia jetzt sein wird?«
»Was?«
»Ihre eigene Produzentin! Sie muß eine eigene Gesellschaft haben, die dann für SEVEN STARS produziert. Mensch, nach dieser Sendung kann Sylvia in Hollywood durchsetzen, was sie will!«
»In ganz kurzer Zeit«, sagte Sylvia vor den Kameras, »wird das Problem der Behinderten allein schon infolge seiner Größe uns alle zum Umdenken zwingen …«
Mein Smokinghemd begann aufzuweichen. Der Tonmeister setzte wieder seine SCHOUM-FLASCHE an die Lippen. Ich sah, daß Babs ihre Lippen beleckte. Sie hatte Durst. Da drinnen, unter den Scheinwerfern, mußte es noch schlimmer sein als hier.
Sylvia sagte: »Wir werden einsehen müssen, daß nicht nur der Tüchtigste und der Ellbogenmensch, der Gütige und das Genie, der zum Schein Erfolgreichere zu unserer Welt gehören …«
»Kamera Drei!«
»… sondern daß zu dieser Welt ganz genauso dazugehören die Unfähigen und die Schwachen, die Stummen und die Behinderten!« Sylvia redete immer leidenschaftlicher, immer drängender und zugleich bittender und, wie mir schien, selbst immer mühsamer unter der furchtbaren Schwere dessen, was sie zu sagen hatte. »Ja! Ja! Ja! Sie alle gehören dazu, denn sie alle machen erst unsere Welt aus, unsere Menschenwelt, in der keiner glauben darf, auch noch der letzte und ärmste Mensch ginge ihn nichts an, denn es ist immer sein Menschenbruder …«
»Jedenfalls den KREIDEKREIS«, flüsterte Bracken mir zu, »macht Sylvia mit ihrer eigenen Gesellschaft, das schwöre ich dir! Und dich, dich ernennen wir zum Produktionschef!«
»Ach, leck mich doch …«
»Könnte dir so passen! Keine Angst, ich weiß, das schaffst du nicht. Hast noch nie gearbeitet in deinem Leben. Ich erledige alles für dich. Und du, du hast endlich einen schönen Titel!«
»Jawohl«, sagte Sylvia, und nun drückte sich Babs an sie und sah ernst zu ihr empor, »jawohl, meine Freunde, eine gewisse Besserung ist heute auch bei schweren Fällen möglich! Wir wissen nicht, wie weit die Medizin schon morgen sein wird. Viel weiter gewiß. Gewiß nicht so weit, daß sie geistig behinderte Kinder vollkommen heilen kann.«
»Kamera Zwo!«
»Die Zeit«, sagte Sylvia, »ist gekommen, in der man den Grad der Kultur einer Gesellschaft daran ablesen kann, ob und in welchem Maße sie die Behinderten als gleichwertig anerkennt – auch wenn geistig behinderte Kinder trotz aller medizinischen und pädagogischen Anstrengungen niemals Leistungen wie Gesunde vollbringen werden. Es klingt banal, meine Freunde, aber so verhält es sich: Was den Menschen unserer Zeit am dringendsten fehlt, ist Menschlichkeit …«
Jetzt war die Hitze im Regieraum kaum mehr zu ertragen. Auch im Studio offenbar nicht. Babs wurde unruhig. Sylvia sprach mit Anstrengung: »… ich will niemanden erschrecken, aber bedenken Sie bitte: Jedem Elternpaar kann widerfahren, was so vielen Eltern widerfahren ist: Daß Mann und Frau plötzlich mit einem
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