Niemand ist eine Insel (German Edition)
Boulevard Princesse Charlotte, einen Auffahrunfall gegeben hatte. Zwei Lastwagen.
Wir hatten das Musée Océanographique telefonisch als Treffpunkt gewählt, denn Frédéric hatte gesagt, zu dieser Jahreszeit würden wir hier am wenigsten auffallen. Der Chefsprecher sah besorgt und schuldbewußt aus, obwohl ihn nun ganz bestimmt keine Schuld für das traf, was geschehen war.
»Gehen wir ein bißchen auf und ab«, sagte der sonst so fröhliche Frédéric. »Reden wir im Gehen. Wo wohnen Sie?«
»In Nizza. Im NEGRESCO.«
»Das ist gut«, sagte Frédéric. »Nicht in Monte-Carlo.«
»Wir sind keine Idioten«, sagte ich.
»Es ist furchtbar«, sagte Frédéric. »Wie stehe ich vor Ihnen da, Messieurs?«
» Sie können doch nichts dafür!«
»Aber es ist in meinem Sender passiert!«
Wir gingen in dem phantastischen Raum langsam Seite an Seite. »Haben Sie was herausgefunden?« fragte ich Frédéric.
»Nichts«, sagte der bedrückt. »Überhaupt nichts.«
»Merde alors«, sagte ich.
»Fledermausfische«, sagte Bracken.
»Was?« fragte ich.
Bracken stand vor einem anderen Bassin und sah sich sonderbar scheibenförmig hochgebaute Fische mit Riesenflossen oben und unten an. So dürfte Moses geschaut haben angesichts des Gelobten Landes.
»Platax. Normalerweise sieht man bloß die gestreiften Jungfische. Aber hier, so einen ausgewachsenen Herrn, der gut einen Dreiviertelmeter mißt, den kann sich kein Liebhaber halten.«
Ich habe, mein Herr Richter, geschrieben, daß wir nach Sylvias TV-Auftritt noch einmal, rund ein halbes Jahr später, nach Monte-Carlo kommen mußten, Bracken und ich. Nicht um die Gefahr einer Katastrophe aus der Welt zu schaffen – dafür war es längst zu spät. Wir mußten seit einem halben Jahr mit der Katastrophe leben, mit der Katastrophe, die Sylvias Karriere im Handumdrehen vernichten konnte. Nein, nicht um die Gefahr aus der Welt zu schaffen, waren wir ins winterliche Monaco zurückgekehrt, Bracken und ich, sondern um zu versuchen, diese Gefahr wenigstens zu zügeln, zu versuchen , sie zu zügeln. Und auch das schien nun nicht mehr möglich zu sein.
Sehen Sie, mein Herr Richter, ganz kurz: Bald nach unserer Heimkehr in diesem Sommer, am 4. August 1969, einem Montag – ich erinnere mich genau, das Datum werde ich nie vergessen –, kam mit der Morgenpost ein Päckchen in Sylvias Haus in Beverly Hills. Es lag eine kleine Tonbandspule darin. Aufgegeben worden war das Päckchen in Wien. Expreß. Air Mail. Hauptpost. Sylvia bekam jeden Tag Berge von Post und Geschenken aus der ganzen Welt, die verrücktesten und rührendsten. Sie hatte ein eigenes Sekretariat, das sich um all das kümmerte. Um diese Tonbandspule kümmerte sich Bracken.
»Die ist nicht koscher«, sagte er. »Ich fühl’s im Urin. Da fängt irgendeine Schweinerei an.«
Hatte der recht!
Wir spielten uns das Band vor. Nach den ersten Sätzen taumelte Sylvia, und ich konnte sie gerade noch auffangen und auf eine Couch setzen. Während ich zuhörte, was da aus dem Lautsprecher des Bandgeräts kam, machte ich uns allen starke Martinis – am Vormittag. Egal. Ich wußte, wir würden sie jetzt brauchen.
Sylvias Stimme erklang aus dem Lautsprecher des Gerätes, ordinär, rasend: »… die armen, kranken Kinder! Diese Stotterheinis! Diese Sabbermäulchen! Diese Kretins, die keine Menschen, die nicht einmal Tiere sind! Und dafür habe ich meinen Namen hergegeben! …« Pause. Dann: »… Strom des Lebens! Das heißt: erfolgreich sein und reich sein und schön sein und stärker sein! Das Leben genießen! Dem Schwächeren einen Tritt in den Hintern! Das ist der Strom des Lebens! Und wenn du schwach wirst und wenn du alt wirst, dann krepierst du eben – ohne mit der Wimper zu zucken! Aber bis zuletzt oben gewesen sein! Und den Mut haben, zu sagen: Aus! Vorbei! Nicht an der erbärmlichen Scheißexistenz kleben bleiben! Das ist menschlich! Das ist normal! Und ich werde oben bleiben! Und da ziehe ich mit dem Geschwätz vorhin den Idioten das Geld aus der Tasche! Wofür? Für nichts! Für reinen Betrug! Für reinen Schwindel!« Pause. Dann meine Stimme: »Es kommt auf den Grad der Schädigung an! So viele Fälle, so sehr viele Fälle, die ganz schlimm sind, kann man heute schon bessern!« Da hatten wir drei schon unsere Martinis getrunken, da hatte ich bereits neue gemixt. Da ertönte Sylvias Stimme: » Bessern , ja? Damit sie nach zehn Jahren schon bis drei zählen können – wenn sie nach zehn Jahren überhaupt reden
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