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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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schlug meine Augen auf, die brennenden Augen mit den bleischweren Lidern hinter den dunkel gefärbten Gläsern meiner Brille. Es dauerte eine Weile, bevor ich überhaupt wußte, wo ich mich befand. Der Lysol-Geruch war es, der die Erinnerung brachte. Hôpital Sainte-Bernadette! Gang vor der Tür zu den Untersuchungsräumen. Weiße Bank. Ich war eingeschlafen auf dieser weißen Bank. Kein Wunder. Die zweite Nacht voller Aufregungen. Zürich. Die Flucht. Sylvia. Suzy. Babs. Nein, kein Wunder. Alles erschien mir sehr dunkel und verschwommen. Mein Schädel dröhnte. Ich hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund.
    »Stehen Sie auf, Monsieur Norton. Wir müssen mit Ihnen über das Kind reden.« Unangenehme Stimme. Böse Stimme. Gereizte Stimme. Ich blinzelte angestrengt. Dann erkannte ich ihn, er trug nun einen weißen Mantel, stand über mich gebeugt, eine Hand lag auf meinem Arm. Er hatte mich wachgerüttelt, der reizende Dr. Sigrand. Neben ihm stand noch jemand. »Schlafen Sie nicht wieder ein!«
    Ich erhob mich taumelig. War mir elend! Ich sagte, und meine Zunge klebte am Gaumen: »Komm schon …« Machte einen Schritt, stolperte. Sigrand hielt mich fest. Alles, was er rausbrachte, war ein befehlendes »Na!«
    Da war dieser zweite Mensch zwischen Schleiern und Schlieren, in der Dunkelheit hinter den getönten Brillengläsern. Ich kam und kam nicht zu mir. Mußte ich tief geschlafen haben!
    »Ach so …« Sigrand räusperte sich. »Darf ich bekannt machen: Monsieur Paul Norton, Doktor Reinhardt. Aus Nürnberg. Arbeitet dort in einer Kinderklinik. Jetzt ein halbes Jahr bei uns.«
    »Guten Abend, Herr Doktor Reinhardt«, sagte ich heiser, lallend vor Benommenheit, deutsch.
    »Guten Morgen, Herr Norton«, sagte eine sehr ruhige und sanfte Frauenstimme, deutsch.
    Ich nahm die Brille ab.
    Auf einmal blendete mich Licht. Es kam durch das Fenster gegenüber. Zwischen aufgerissenen schwarzen Wolkenbänken strahlte eine ebenso kraftlose wie grelle Wintersonne. Das Licht war so stark, daß ich die beiden Menschen vor mir nur als Silhouetten sah. Aber Morgen war es tatsächlich, Tag war es, wer weiß, wie spät schon am Tag! Ich sagte: »Es tut mir leid … Sie … Ich dachte, Sie seien ein Mann …«
    »Ruth Reinhardt«, sagte die Ärztin. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Norton.« Sie hielt mir ihre Hand hin. Es war eine kleine Hand, die fest zupackte. Warum sagte diese fremde Frau, daß es sie freute, mich kennenzulernen?
    »Frau Doktor Reinhardt ist Spezialistin auf dem Gebiet, auf dem wir es bei Babs zu tun haben«, sagte Dr. Sigrand französisch. »Frau Doktor Reinhardt wird nun mit uns zu Babs gehen. Danach wird sie Ihnen alles erklären und alles mit Ihnen besprechen, Monsieur Norton.«
    »Danke«, sagte ich, nun wieder französisch. »Danke, Frau Doktor Reinhardt.« Das Licht, das durch das Fenster kam, war derart grell, daß ich kaum richtig erkennen konnte, wie sie aussah. Nur mittelgroß war sie, schlank war sie, das Haar trug sie zurückgekämmt, am Kopf anliegend, einem schmalen Kopf. Der Stimme nach war sie wohl um die Dreißig.
    »Wir haben viel zu besprechen, Monsieur Norton«, sagte diese Stimme, ebenfalls französisch.
    »Ja, Frau Doktor Reinhardt«, sagte ich. »Wie spät …« Ich mußte mich räuspern. »Wie spät ist es, bitte?«
    »Zehn Minuten nach neun, Monsieur Norton«, sagte Frau Dr. Reinhardt. Ich hatte also etwa sieben Stunden geschlafen! Plötzlich zitterte ich, denn nun kehrte die Erinnerung wieder an alles, was mich erwartete.
    »Monsieur Norton!« sagte Dr. Sigrand. »Sie sehen so … Was haben Sie?«
    »Angst«, sagte Frau Dr. Reinhardt. »Angst natürlich hat Monsieur Norton.« Und deutsch zu mir: »Nicht wahr, Herr Norton?«
    Ich konnte nur nicken. Ja, ich hatte Angst. Aber natürlich nur Angst um mich, um meine Existenz. Was bedeutete mir schon Babs?

34
    E s war fast völlig dunkel in dem großen Raum. Über dem Krankenbett brannte eine dunkelblaue Lampe. Ich sah zunächst fast nichts – dann sah ich die Silhouetten des alten Dr. Lévy und die des Dr. Dumoulin. Sie standen vor dem Bett und blickten auf Babs nieder, die ich nun auch erkannte. Sie lag auf Bauch und Gesicht, und sie regte sich nicht. Ich dachte im ersten Moment, sie sei gestorben. Dann dachte ich, daß dies das beste wäre, was hätte passieren können in der Zeit, die ich verschlafen hatte. Dann dachte ich, daß Babs doch nicht gestorben sein konnte, denn sonst hätte diese Ärztin anders mit mir

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