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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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gesprochen. Nein, tot war Babs nicht.
    Ich trat näher und neigte mich über sie. Nur der Kopf sah unter der Decke hervor, der kleine Kopf mit dem wirren, schweißverklebten schwarzen Haar. Ich beugte mich tiefer. Kein Laut. Ich richtete mich auf. Direkt hinter mir stand die Ärztin, ich wäre fast mit ihr zusammengestoßen. Ich sagte: »Sie atmet nicht!«
    »Sie atmet, Monsieur Norton«, sagte Frau Dr. Reinhardt. »Aber ganz flach. Sie schläft sehr tief. Wir haben ihr ein Mittel gegeben.«
    »Was für ein Mittel?« flüsterte ich.
    »Sie können ruhig laut reden«, sagte Dr. Sigrand. »Babs weckt jetzt nichts mehr auf.« Auch ihn sah ich nur als Silhouette, ebenso wie ich das Gesicht der Ärztin immer, noch nicht erkennen konnte, nur die Umrisse. Es war eine reichlich unheimliche Atmosphäre in diesem Zimmer mit seinen Schattenfiguren und dem Kind, das dalag wie tot und das doch lebte. »Ein Mittel nach der Lumbalpunktion«, sagte Dr. Sigrand.
    Warum haßt dieser Mann mich so? grübelte ich. Noch hier, in fast völliger Finsternis, da ich ihn kaum sehen konnte, spürte ich, wie er mich haßte – ich mußte nur seiner Stimme lauschen.
    »Lumbalpunktion?«
    Ich hörte, wie Dr. Dumoulin sich räusperte. Dann sah ich, wie er gemeinsam mit dem alten Dr. Lévy auf mich zutrat. Dr. Dumoulin sagte: »Wir können hier nichts mehr tun, Monsieur. Das Kind ist nun in bester Obsorge.« Er reichte mir die Hand.
    »Ich bin Tag und Nacht für Sie da wie immer, wenn Sie mich brauchen«, sagte der kleine Dr. Lévy, mir auch die Hand schüttelnd.
    »Danke, Herr Doktor«, sagte ich.
    Die zwei Ärzte nickten ihren beiden Kollegen zu und gingen zur Tür.
    »Lumbalpunktion«, sagte Dr. Ruth Reinhardt. »Darunter versteht man eine Punktion zur Gewinnung von Gehirn- und Rückenmarksflüssigkeit. Im Laufe der Untersuchungen war eine solche Lumbalpunktion unbedingt nötig – natürlich unter örtlicher Betäubung, Monsieur Norton.«
    »Warum unbedingt nötig?«
    »Um letzte Gewißheit zu bekommen«, sagte Dr. Sigrand.
    »Letzte Gewißheit worüber?« fragte ich. Babs ächzte kurz in ihrem Schlaf. »Über die Krankheit«, sagte Dr. Sigrand, und da war wieder die kalte, böse, aggressive Stimme. »Wir wissen es nun – leider – mit absoluter Sicherheit. Meine Befürchtungen waren mehr als berechtigt. Babs hat eine Meningo-Encephalitis, also eine Gehirnhaut- und Gehirnentzündung.« Ich schwieg und krampfte die Hände zu Fäusten. »Tut mir leid, so ist es«, sagte Sigrand, und ich hatte das Gefühl, er sagte es mit Genugtuung. Mit Genugtuung – ein Arzt. Sie sehen, mein Herr Richter, wie es an jenem Morgen mit mir stand?
    »Das Ganze ist eine Folgekrankheit der Mittelohrentzündung«, sagte Frau Dr. Reinhardt. »Diese wieder folgte den Masern.« Sie sprach ganz ruhig. »Nun, leider sind hier zwei schwere Infektionen des Nervensystems zusammengekommen. Die Meningen, das sind die Häute, die um das Gehirn liegen. Meningitis ist also eine Gehirn haut entzündung. Bei Babs ist sie vorangeschritten.«
    »Wie vorangeschritten?« fragte ich und fror plötzlich.
    »Die Entzündung hat sich ausgebreitet. Sie ist entlang den Gefäßen gewandert. Und vom Blut her in das Gehirngewebe hinein. So entstand die Encephalitis – die Gehirn entzündung.«
    »Gehirnentzündung«, sagte ich.
    »Diese beiden Arten von Entzündung kommen in der Praxis nur selten getrennt vor«, sagte die Ärztin. »Diagnose und Behandlung hängen in solchen Fällen von der Art des Erregers ab – und von den Veränderungen der Gehirnflüssigkeit, des Liquors. Dazu benötigt man unter allen Umständen die Lumbalpunktion. Und zwar bevor der Patient Antibiotika bekommen hat, denn danach sind die Erreger meistens nicht mehr deutlich zu beurteilen. Sie verstehen?«
    »Ich verstehe, Frau Doktor«, sagte ich, diesmal deutsch.
    Und Babs bewegte sich nicht, lag da wie tot, tot, tot. Und lebte, lebte, lebte.
    Noch.
    »Das Labor, die Ärzte, wir alle sind uns noch nicht eindeutig darüber klar, ob nur Bakterien oder ob Bakterien und ein Virus die Krankheit ausgelöst haben. Alles deutet auch auf ein Virus hin … Das wird zu kompliziert für Sie, Monsieur.«
    »Ist es schlimmer, wenn es dazu auch noch ein Virus ist?« fragte ich.
    »Ja, Monsieur«, sagte Dr. Reinhardt.
    Plötzlich hörte ich, es war verrückt, aber ich hörte sie wirklich, die Stimme John Williams’, der Suzys Lieblingslied sang: »Ô Dieu, merci, pour ce paradis, qui s’ouvre

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