Niemand kennt mich so wie du
die Tabletten in dem Glas und merkte erst, dass das Wasser überlief, als sie in der Pfütze ausrutschte und sich fast das Bein gebrochen hätte. Haarscharf. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Mutterseelenallein mit einem gebrochenen Bein. Als die Tabletten sich aufgelöst hatten, leerte sie das Glas in einem Zug. Ihr war heiß, obwohl es kein besonders warmer Tag war und sie Ende Mai die Fußbodenheizung ausgestellt hatte. Die weißen Hochglanzfliesen unter ihren Füßen waren kühl. Sie stellte das leere Glas auf die Anrichte und setzte sich im Lotussitz auf den Fußboden. Sie streckte die Arme über den Kopf, beugte sich nach vorn, ließ das Gesicht auf dem Boden ruhen und umarmte sich selbst. Die kühlen Fliesen an ihrer Wange waren so wohltuend, dass sie eine Ewigkeit liegen blieb – bis ihr die Hüfte weh tat und ihre Beine derart taub waren, dass sie glaubte, keine Füße mehr zu haben.
Sie tanzte gerade durch die Küche, um die tausend kribbelnden Ameisen in ihren Füßen wieder loszuwerden, als das Telefon klingelte. Es war Ben, und er klang deprimiert. Er hatte sich fürchterlich mit seiner Frau gestritten, und sie war abgehauen, um bei ihrer Mutter zu übernachten. Er wollte vorbeikommen. Eves Kopfschmerzen waren abgeklungen, sie hatte gerade eine ungestörte Stunde kauernd auf dem Küchenboden verbracht, und es war noch früh. Weil sie kein Fernsehmensch war, hatte sie nicht wirklich etwas vor, es war der erste Telefonanruf seit drei Tagen, sie war so einsam und gelangweilt, dass sie es förmlich schmecken konnte, und sie vermisste ihn so sehr, dass es weh tat.
Sie willigte mit Freuden ein. Juhuhhh, Ben kommt zu mir!
Sie duschte ausgiebig und föhnte in fünf Minuten ihre kurzen Haare trocken. Sie zog ihre Glücksunterwäsche an, hüllte sich in eine Parfümwolke und schlüpfte in eines der beiden Kleider, die sie besaß. Es war ein schwarzes Jerseywickelkleid, bequem und leicht auszuziehen. Sie hoffte wirklich, wirklich sehr, dass Ben nicht kam, um ihre Vorschläge zu diskutieren, sondern dass er auf der Suche nach ein bisschen Ablenkung war, denn die hatten sie beide nötig.
Hätte Eve gewusst, welche Wendung die Dinge nehmen würden, hätte sie Ben gesagt, er solle seiner Frau nachfahren. Sie hätte ihn gebeten, sie nie wieder anzurufen. Sie hätte aufgelegt. Aber genau das war schon immer Eves Problem gewesen. Sie verschwendete nie viele Gedanken auf Konsequenzen.
2
Möge die echte Lily Donovan sich erheben!
MITTWOCH, 4. JULI 1990
16.30 UHR
Liebe Eve,
heiliges Kanonenrohr, ich fass es nicht, dass du mit Glenn Medeiros gesprochen hast! Habe ich gelacht, als du ihn gefragt hast, was er will, und er auf sein Fahrrad gezeigt hat! Trotzdem hart, dass er einfach so damit rausgeplatzt ist, dass er dich mag. Ich meine, dazu braucht es schon ziemlich viel Mumm. Das gefällt mir. Er glotzt dir ja schon Ewigkeiten hinterher, also war es eigentlich nur logisch, aber trotzdem: Man muss schon ganz schön mutig sein, um es einfach so zu sagen, vor allem bei einem Mädchen wie dir, und du weißt, was ich damit meine. (So à la Eve, besser bekannt als die Oberzicke, hahaha!) Ach ja, und ihn auf Dauerwelle, Mädchenblusen und schlechte Gedichte anzusprechen war nicht unbedingt allererste Sahne, aber wenigstens hast du ihn damit nicht zum Heulen gebracht, das ist auch schon was wert. Ich bin stolz auf dich. Wo wir gerade dabei sind: Ich kann es nicht fassen, dass du Gar SCHON WIEDER geküsst hast! Was ist denn eigentlich los mit dir? Und ja, ich verspreche, dass ich es nicht weitererzähle, obwohl es mich schon juckt. Ich bin froh, dass du fest entschlossen bist, endgültig und für immer die Finger von ihm zu lassen, und bitte halte dich auch dran, egal, wie viele Flaschen Ritz du intus hast. Und wenn du ihm das Herz brichst, denk bitte daran, wie empfindlich er ist und dass er immer noch auf dich steht, also erzähl ihm bitte AUF KEINEN FALL, dass du findest, dass er wie ein nasser Waschlappen küsst, oder was immer dir da auf der Zunge lag. Erzähl ihm einfach, du hättest nachgedacht, und weil du im September nach London gehst und er nach Dublin, fändest du es besser, wenn ihr beide Freunde bleibt und es dabei belasst. Mehr nicht. Okay?
Hier wird alles immer besser. Ich bin jetzt viel glücklicher als am Anfang. Das Restaurant ist toll. Die Leute da sind richtig cool. Es ist immer gerammelt voll, die Zeit vergeht wie im Flug, und das Trinkgeld ist echt üppig. Ich arbeite an sechs Abenden in
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