Niemand kennt mich so wie du
einer Vereinigung, die sich um die Aufklärung von Missbrauchsfällen durch die katholische Kirche bemühte. Ihm war klargeworden, dass seine Vergangenheit keine Entschuldigung für das war, was er seinem Sohn angetan hatte. Er hatte viele Menschen kennengelernt, die genauso gelitten hatten wie er, ohne sich in Untiere zu verwandeln. Es tat ihm leid, und zwar aufrichtig. Obwohl Declan das wusste, gelang es ihm nur mit Mühe, diesen Mann zu tolerieren, der alles daransetzte, im neuen Leben seines Sohnes eine Rolle zu spielen. Scott hatte sich vom ersten Tag an in seinen Großvater verliebt. Er liebte Autos und Lastwagen und Rennräder und war fasziniert von der Tatsache, dass sein Großvater seine eigene Werkstatt besaß. Er liebte es, herumzubasteln und Dinge in ihre Einzelteile zu zerlegen, und ihm gefiel der Gedanke, selbst ein Auto wieder fahrtüchtig zu machen. Als er sechzehn wurde, schenkte sein Großvater ihm – mit der Erlaubnis seines Vaters – einen reparaturbedürftigen Wagen. Gemeinsam setzten sie in Declans Garten und unter dessen wachsamem Blick den Motor wieder instand. Als 2009 schließlich der Bericht über die Missbrauchsfälle unter dem Dach der katholischen Kirche veröffentlicht wurde, stockte dem ganzen Land der Atem angesichts der Qualen, die die Kinder unter der Obhut der Kirche erleiden mussten. Declan las den Bericht von der ersten bis zur letzten Seite, und erst da verstand er die Vergangenheit seines Vaters wirklich. Sie sprachen niemals darüber, doch so seltsam es auch war, die Lektüre des Berichts brachte ihn seinem Peiniger näher – als wären sie in gewisser Weise verwandte Seelen. Er begriff, dass sein Vater sexuell missbraucht worden war und niemals im Leben darüber sprechen würde, genau wie Declan ihn auch niemals danach fragen würde. Obwohl ihre Beziehung angespannt und schwierig blieb, war sie im vergangenen Jahr doch merklich besser geworden.
Ehe jener Bericht erschienen war, hätte Declan seinen Sohn niemals in der Werkstatt arbeiten lassen, die so oft Schauplatz heftiger Prügel gewesen war. Doch als er jetzt in seinem Badezimmer saß und die Hand seiner Frau hielt, dachte er tatsächlich ernstlich darüber nach.
«Er liebt Autos», sagte er.
«Und wenn irgendetwas passieren würde, und ich weiß, dass dem nicht so sein wird, aber wenn doch, dann wäre es anders», sagte sie.
«Wieso das?», wollte Declan wissen.
«Weil er damit zu dir kommen kann», sagte sie, und Declan nickte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er drückte ihre Hand.
«Ich liebe dich», sagte er.
«Ich liebe dich auch.»
Declan mochte es nicht, vor seiner Frau zu weinen, also hüstelte er und verließ das Badezimmer. Vielleicht lag es daran, dass Lily an die schmerzliche Vergangenheit ihres Mannes erinnert wurde, vielleicht auch daran, dass sie einen flüchtigen Blick auf den Jungen erhaschen durfte, in den sie sich einst verliebt hatte. Womöglich hatte auch das Wiedersehen mit ihrer alten Freundin, verletzt und zerschunden, damit zu tun, oder die unfassbare Trauer, die sie in sich trug. Wahrscheinlich war es all das zusammengenommen; jedenfalls brachen zum zweiten Mal an diesem Tag sämtliche Dämme, und die Flut, die sie sonst so eisern unter Kontrolle hielt, brach sich Bahn. Lily saß still in der Badewanne und schluchzte, bis sie innerlich völlig leer war und zu frieren begann.
In dieser Nacht erwachte Eve noch zweimal. Das erste Mal schreckte sie schreiend auf. Sie hatte geträumt, sie läge auf einer Streckbank und ihr würden Arme und Beine ausgerissen. Ihre Arme wurden aus dem Gelenk gezerrt, und sie musste zusehen, wie der Rote Unhold ihre Beine in einen alten Korb warf. Sie war völlig nass geschwitzt. Ihr Herz raste, und sie schrie auf. Sie flehte ihn an aufzuhören und bat immer wieder laut um Entschuldigung.
Eine Schwester kam ins Zimmer geeilt.
«Alles ist gut», sagte sie sanft und drückte auf den Knopf. Das Feuer schoss durch Eves Körper, und sie wurde ruhig, warm und schwer.
Die Decke verschwand und machte einem samtenen schwarzblauen Nachthimmel mit funkelnden Sternen und einem perlmuttfarbenen Halbmond Platz. Sie stand wieder an die Mauer an der schmalen Straße gelehnt. Ben war wieder achtzehn. Er trug sein Bruce-Springsteen-T-Shirt. Er saß auf der Steinmauer, sie stand zwischen seinen Beinen, küsste ihn und schmiegte sich eng an ihn.
«Ich wünschte, wir könnten einfach die Zeit stoppen und für immer in diesem Augenblick leben», sagte er und
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