Niemand kennt mich so wie du
seinen Augen verhungerte, weil nur ein paar Kilometer entfernt ein Lastwagen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten liegen geblieben war. Er erinnerte sich an jeden einzelnen Namen und an jedes Gesicht derjenigen, zu deren Rettung er beigetragen hatte. Gleichzeitig vergaß er auch diejenigen nicht, für die jede Hilfe zu spät gekommen war. In den Anfangszeiten unterschrieb er Sechs- oder Zwölfmonatsverträge und nahm sich danach einen Monat – oder auch sechs – frei. Während der Auszeiten lebte er irgendwo am Strand und immer an einem Ort, an dem er mit einem äußerst schmalen Budget wie ein König leben konnte. Wobei Clooneys Vorstellung von einem königlichen Leben kaum der der meisten Leute entsprach. Solange er Sand zwischen den Zehen hatte, dazu die Sonne über sich, vor sich blaues Meer bis zum Horizont, ein kühles Bier und etwas zu essen, besaß er alles, was er brauchte. Doch kürzlich war ihm bewusst geworden, dass er trotz ständiger Ortswechsel seit 2004 ununterbrochen arbeitete. 2004 war er zwei Tage nach dem Tsunami in Indonesien gelandet. 2005 verließ er Indonesien, um nach dem Hurrikan Katrina ein Helferteam in New Orleans zu leiten. 2006 kehrte er nach einem heftigen Erdbeben nach Indonesien zurück und arbeitete in Java. Er blieb bis 2008, als man ihm die Durchführung eines Ernährungsprogramms in Afghanistan anbot.
Clooney war an Tod und Zerstörung gewöhnt, doch er hatte es immer mit den Folgen von Naturkatastrophen zu tun gehabt. Afghanistan war sein erstes Kriegsgebiet und auch sein letztes, das hatte er sich geschworen. So deprimierend und entsetzlich der Verlust Tausender Menschenleben an eine größere Macht auch war, Menschen, die willentlich andere Menschen abschlachteten, würde Clooney nie wirklich verstehen. Er lebte nach einem schlichten Ethos. Der Zorn der Natur ist unausweichlich, der Zorn des Menschen ist vermeidbar. Clooney glaubte an Frieden und Liebe und all die guten Dinge. Im tiefsten Herzen war er ein Naturfreund, und er gehörte einfach nicht nach Afghanistan. Das Land, der Ethos der Menschen, die ihn umgaben, und die Dinge, die er gesehen hatte, verwandelten ihn langsam in jemanden, der er nie hatte sein wollen. Mit jedem Tag, der verging, wurde er kälter und distanzierter. Wieso soll ich mich um Menschen kümmern, die mich am liebsten tot sehen würden? Und wieso sollten sie auch anders empfinden? Wir haben zwar deinen Laden in die Luft gejagt, aber hier hast du ein Sandwich und schönen Tag noch. Clooney war mehr als reif für eine Pause.
Die Monate in Irland mit seinem Vater waren hart gewesen. Clooney war an den Anblick des Schlimmsten gewöhnt, was diese Welt zu bieten hatte. Doch als es mit seinem Vater zu Ende ging, stellte sich heraus, dass seine schicke Business-Schwester mit ihrer luxuriösen New Yorker Designerwohnung aus viel härterem Holz geschnitzt war als er. Clooney hatte in diesem Haus seine Eltern sterben sehen, und als die Bestattung vorüber war, spielte er mit dem Gedanken, an irgendeinen exotischen Strand abzuhauen. Doch sein Pflichtgefühl verbot es ihm, sich seiner beruflichen Verantwortung zu entziehen.
Er war in Afghanistan beinahe fertig und zählte im wahrsten Sinne des Wortes die Tage. Er würde Stephanie vermissen, genau wie sie ihn vermissen würde, aber ihnen war beiden klar, dass sie im anderen eher eine Atempause sahen als die ewige Liebe. Dazu waren sie viel zu unterschiedlich. Er war der unbeschwerte Hippie und sie die zielstrebige Militärbraut, deren Waffe die Kamera war. Sie fanden Vergnügen aneinander, aber eine Trennung würde beiden nicht schwerfallen.
Als sie aus der Wanne stieg, entdeckte er auf der Rückseite ihres Oberschenkels eine Brandwunde.
«Was ist passiert?», fragte er.
«Nichts», antwortete sie, und ihr Blick sagte ihm, dass er keine andere Antwort bekommen würde.
Er folgte ihr ins Schlafzimmer. Sie zog ein leichtes Baumwollhemd an und schlüpfte unter die Decke.
«Ich will nicht, dass du hier stirbst», sagte er.
«Dieser Ort ist genauso gut wie jeder andere», antwortete sie, küsste ihn und war eingeschlafen, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.
Er lag noch drei Stunden wach, ehe er es ihr gleichtat, schlief jedoch nur ein oder zwei Stunden. Als er wieder aufwachte, war Stephanie weg. Da erst hörte er seine Mailbox ab und erfuhr, dass seine Schwester einen schweren Autounfall gehabt hatte. Stephanie war nicht mehr im Haus. Er packte seine Sachen und hinterließ ihr an der Rezeption eine
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