Niemand kennt mich so wie du
wenn Dad arbeitet, und er hat zurzeit ein riesiges Projekt und ist total viel weg. Göttlich! Ben wollte neulich, dass wir zu ihm gehen, aber seine Mutter wäre zu Hause gewesen, und da habe ich gesagt, wir sollten doch besser zu mir gehen. Er wollte wissen, ob ich denn seine Mutter nicht kennenlernen wollte, und ich meinte, eigentlich nicht. Damit habe ich ihn offensichtlich ziemlich verletzt, was ich nicht verstehe. Ich erklärte ihm, dass Mütter mich nicht mögen und es für ihn bestimmt besser ist, wenn er mich nicht zu Hause vorstellt. Er lachte nur, aber es ist mein Ernst. Deine Mutter hasst mich. Gars Mutter findet mich frech, und Declans Mutter ignoriert mich einfach. Aber die ist auch so hochnäsig, dass sie jeden ignoriert. Gestern Abend stand Clooneys Haartante vor unserer Haustür. Ich wollte zu ihr rausgehen, aber dann sagte Ben, dass er das übernehmen würde. Er ging also zu ihr raus, setzte sich mit ihr auf die Mauer, und dort blieben sie dann eine halbe Ewigkeit. Ich schaute aus dem Fenster und fragte mich, worüber zum Teufel sie so lange redeten. Doch dann stand sie auf einmal auf und ging weg. Als er wieder reinkam, meinte er, er hätte ihr klargemacht, dass sie Besseres verdient hätte, als unter einer Laterne zu stehen und das Haus von irgendeinem Typen anzustarren, der sich nichts aus ihr macht. Ich sagte zu ihm, er sollte von Marketing lieber auf Psychologie umsatteln. Er meinte, dass er ständig Bücher darüber lesen würde. Nach dem Tod seiner Schwester hat er ein Interesse dafür entwickelt, weil seine Mutter so depressiv war, dass sie eine ganze Zeit lang akut selbstmordgefährdet war. Das wusste ich noch gar nicht. Es ist sehr traurig, und jetzt finde ich es gemein von mir, dass ich sie nicht kennenlernen wollte. Vielleicht schlage ich bald mal vor, zu ihm zu kommen. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob seine kleine Rede gewirkt hat, weil ich die Haartante heute schon wieder im Ort gesehen habe und ich nicht glaube, dass sie wirklich einen Grund hatte, hier zu sein.
Abwarten.
Wie geht es Colm? Kannst du dich inzwischen besser an den Abend erinnern?
Ich hab dich lieb, Eve
PS: Gar hat sich von dem Mädchen aus Bray getrennt. Keine Ahnung, warum. Ich treffe mich Donnerstagabend mit den Jungs, und nächsten Sonntag schreibe ich dir mehr. Paul wurde mit einem Mädchen in der Stadt gesichtet, das aussieht wie ein Supermodel! Darüber weiß ich aber noch nicht mehr – Paul sagt ja mal wieder keinen Ton! NERV!
PPS: Declan geht es gut. Freu dich, ich bin jetzt viel netter zu ihm. Er vermisst dich total und macht in der Werkstatt seines Vaters jede Menge Überstunden, um Geld fürs College zu verdienen. Ich habe neulich abends bei ihm zu Hause vorbeigeschaut, weil ich ihn zu Bens nächstem Auftritt einladen wollte. Ich glaube, ich bin mitten in einen Streit mit seinem Vater hineingeplatzt, aber vielleicht täusche ich mich auch, denn sein Vater war total nett zu mir und hat mir sogar Kaffee angeboten. Ich lehnte ab, aber Declan bestand darauf. Er muss dich wirklich vermissen, wenn er sogar mich in seiner Nähe haben will!!! Also blieb ich, aber es war irgendwie seltsam. Du weißt doch, wie wir uns normalerweise die ganze Zeit gegenseitig aufziehen, oder? Aber diesmal haben wir uns richtig unterhalten. Wir sprachen über die zweiunddreißigjährige Frau, die sich Dienstag von der Klippe gestürzt hat, weil ihr Freund sie verlassen hat. Das Gespräch hatte echt Tiefgang. Langsam kapiere ich, was du an ihm findest. (Ha ha! Endlich!)
***
Zu Ben Logans Beerdigung kamen unglaublich viele Leute: Familie, neue Freunde, alte Freunde, entfernte Bekannte, Nachbarn, Arbeitskollegen, Angestellte, Lieferanten und sogar ein paar Gläubiger und Konkurrenten. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, und zahlreiche Trauergäste mussten draußen stehen. Es war ein heißer Julitag, und zwischen Kirchenliedern, Reden und der Predigt war lautes Vogelgezwitscher von den Bäumen auf dem Friedhof zu hören. Niemand konnte etwas Schlechtes über Ben sagen. Jede zweite Geschichte, die erzählt wurde, rührte zu Gelächter oder zu Tränen der Freude und tiefer Trauer. Ben Logan war für alle, die ihn kannten, ein Segen gewesen. Er war freundlich, besonnen, rücksichtsvoll, witzig und aufmerksam gewesen. Er war ein guter und fairer Chef gewesen, ein netter Nachbar und ein Freund, der einem für immer erhalten blieb, auch wenn man einander lange nicht sah. Die Musikauswahl war ergreifend, und als
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