Niemand lebt von seinen Träumen
Maschinentelegraph selbst unternahm. Dann vergaß er das Zigarettenmädchen wieder, denn die ›Giesela Russ‹ näherte sich der offenen See – die Schleppboote warfen ab und hupten abschiednehmend noch einmal kurz auf … Das Schiff glitt in die rauschende Nordsee hinaus und nahm Kurs auf den Ärmelkanal.
Auf dem Sonnendeck lagen die Passagiere in dicke Decken eingewickelt und lasen die neuesten Zeitungen, die man kurz vor der Abfahrt noch hineingereicht hatte. Ein älterer Herr in einem weißen Anzug und weißen Schuhen, den kleinen grauen Spitzbart korrekt gestutzt, saß in einem Lehnstuhl im Wandelgang der ersten Klasse und blätterte in einem Buch. Pit, der Matrose, den Susanne im Hafen zuerst nach der ›Giesela Russ‹ gefragt hatte und der auf der Reise als Hilfssteward fungierte, bediente den alten Herrn gerade mit einem Glas Limonade und einigen belegten Brötchen.
»Wann sind wir in Dover, Steward?« fragte der Herr und sah kurz aus seinem Buch auf.
»Am späten Nachmittag, Herr Professor«, meinte Pit. »Wir haben dort aber keinen Aufenthalt, sondern nehmen nur von einem Frachtschiff Wolle an Bord. Der nächste Halt ist erst wieder New York. Wir kommen zwar ganz nah an den Azoren vorbei, doch die lassen wir im wahrsten Sinne des Wortes links liegen.«
»Danke.« Der alte Herr trank seine Limonade und blätterte weiter in seinem Buch.
Unter ihm rauschte die Nordsee. Am Heck des Dampfers spritzte der Schaum der Wellen empor. Leicht wiegte sich das Schiff in der langen, ruhigen Dünung.
Kapitän Kim Brake stand auf der Brücke und schaute hinaus auf das Meer. Er war zufrieden. Die Welt lag wieder offen vor ihm. Deutsche durften wieder in ferne Länder fahren. Deutsche durften den Ozean überqueren. Es war ein herrliches Gefühl, so auf einer Kommandobrücke zu stehen und zu wissen, daß dort am Horizont einmal der amerikanische Kontinent auftauchen würde – einst feindliches Land, jetzt verbunden durch das Schicksal um die Erhaltung der Welt.
Was gibt es Schöneres, als Seemann zu sein?
Die ganze Welt liegt einem zu Füßen.
In ihrem dunklen Versteck hockte Susanne Braun und lauschte auf das Rauschen des Meeres. Wir schwimmen, jauchzte es in ihr. Es ist geschafft. Aber nun heißt es Geduld haben. Ein oder zwei Tage aushalten, sich nicht blicken lassen, sich irgendwo in eine Ecke verkriechen. Erst wenn wir im Atlantik schwimmen, darf ich auftauchen. Dann müssen sie mich mitnehmen bis nach New York.
Und in New York wird Frank sein. Der große liebe, liebste, allerliebste Frank.
Wie wird er staunen, wenn seine Susanne plötzlich vor ihm steht! Ja, wird sie dann sagen, was du nicht konntest, das kann ich aber schon lange! Über das weite Meer bin ich trotz aller Gefahren zu dir gekommen, weil ich dich liebe, weil ich Sehnsucht nach dir habe. Und es gab niemanden, der mich aufhalten und uns trennen konnte.
Was sind Meere, was sind Länder, was sind Entfernungen, wenn man sich liebt? Die Erde wird dann so klein, sie schrumpft zusammen, daß man sie in einer Hand halten kann – in der Hand, die man sich fürs ganze Leben reicht.
An der Bordwand plätscherte das Meer. Die Maschinen stampften, der riesige Stahlleib zitterte vor verhaltener Kraft.
Es geht hinaus, jubelte es in Susanne. Es geht in ein neues Leben.
Susanne fährt nach Amerika.
Und die Liebe, die große heilige Liebe fährt mit ihr.
9
Die Matrosen Pit und Johnny hatten Freiwache.
Freiwache ist so eine Sache. Wer sich bei ihr nicht verdrückt, wird vom Steuermann oder vom zweiten Ingenieur zu allerhand Arbeiten herangezogen, denn wirkliche Freiheit gibt es auf einem Hochseeschiff nie. Aber ein richtiger Matrose, der die Meere von Shanghai bis Johannesburg kennt, der am Kap der Guten Hoffnung in den Seilen hing und bei Gibraltar in das Mittelmeer priemte, der weiß sich zu drücken und für die Zeit der Freiwache unsichtbar zu machen, sosehr Steuermann und Ingenieur suchen mochten.
Pit und Johnny hatten sich deshalb einen schönen Plan ausgedacht. Als die ›Giesela Russ‹ durch die Nordsee schaukelte, verkrochen sich die beiden still und heimlich in den Ladebunker drei, wo sie hinter den hohen Juteballen auf dem Eisenboden saßen und bei einer Kerze ein Kartenspielchen machten.
Ladebunker drei hatte den großen Vorteil, daß er schwer zu erreichen war. Er lag als unterster Bunker unterhalb der Wasserlinie, und nur eine enge steile Leiter führte zu ihm hinab.
Dort unten vermutete niemand die Freiwache, denn hier war es immer
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