Niemand
in die Seiten gestemmt und den Mund, der nichts weiter als ein großes Loch zu sein schien, mürrisch verzogen.
»Verschwinde!«, rief Niemand.
Das Wurzelmännchen zuckte merklich zusammen.
»Hast du gehört? Geh und zerhack deinen Wald, aber lass Nina in Ruhe!«
Lilly schraubte sich unter Niemands Arm heraus, sprang auf den Boden und machte sich an Ninas Beinfesseln zu schaffen. Für jede durchgenagte Wurzel kamen zwei neue, die Ninas Beine umschlangen und an ihnen hinaufkrochen. Nina schlug danach, was die Baumtentakel wenigstens davon abhielt, höher als bis zu den Oberschenkeln zu wandern.
Mit seinen schwarzen Augenhöhlen glotzte das riesige Wurzelmännchen Nina an. »Der Herrscher beschützt dich?«
Nina antwortete nicht, auch Niemand schwieg.
Anscheinend konnte Niemand zwar nicht gesehen werden, aber jeder kannte seine Stimme. Oder seinen Geruch. Wonach mochte er wohl riechen?
»Der Herrscher ist weise, er weiß was gut und was schlecht ist, es ist seine Aufgabe, das Niemandsland zu regieren. Aber er weigert sich.« Das Wurzelmännchen klang sachlich, als hielte es ein Referat.
»Wenn der Herrscher dich nun beschützt, dann erinnert er sich scheinbar seiner Aufgaben.« Es beugte sich tiefer zu Nina hinunter und sah ebenfalls um den unsichtbaren Niemand herum, bis es sich mit Nina auf einer Augenhöhe befand.
»Der Herrscher beschützt dich.«
Sie nickte.
»Dann bist du gut? Bist du böse?«
»Sie ist gut!«, mischte sich Niemand ein. Sie spürte seine Hände auf ihrem Bauch und griff danach.
»Das ist gut. Ich verzeihe dir!« Das Wurzelmännchen drehte um und stapfte zurück. Nina atmete durch, erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Luft angehalten hatte. Auf halber Strecke wandte sich ihnen das Wurzelmännchen noch einmal zu. Nina zuckte zusammen. Den Reflexen folgend trat sie einen Schritt nach hinten. Dabei stolperte sie über Lilly und fiel hin – die Wurzeln um ihre Beine waren verschwunden.
»Gut! Gut ist gut! Er erinnert sich!« Laub raschelte und Äste knirschten, als das Wurzelmännchen zwischen den Bäumen verschwand.
Sie blieben an Ort und Stelle. Nina auf dem Boden hockend, Lilly, die sich ängstlich zwischen Ninas Beinen verzogen hatte, und Niemand, der Ninas Hand nahm und ihr beim Aufstehen half.
Ob er ihr böse war?
24.
Warum wollten alle, dass er, Niemand, seine Aufgaben wahrnahm? Er war viel zu jung dafür. Wer hatte diese Regeln aufgestellt?
Aber wenn er herrschen sollte, dann durfte er auch die Gesetze ändern. Niemand lächelte. Darauf hätte er früher kommen können. Wem könnte er die Macht übertragen?
»Gehen wir weiter? Die Nacht hätte längst über uns herfallen müssen«, meinte Lilly, die ihre Angst überwunden zu haben schien.
»Eben hast du noch gezittert, und jetzt mauzt du schon wieder rum.«
»Sie fällt über uns her?«
»Sie bricht herein, fällt über dich her wie ein gefräßiger Greisling, übermannt uns. Ist doch völlig egal.«
»Wird es nicht einfach nur Nacht?«
»Nein, es wird nicht einfach nur Nacht.« Lilly kniff die Augen zusammen. »Die Nacht ist hinterlistig. Sie überfällt dich rücklings wie ein Verräter. Mit der Nacht verändert sich das Niemandsland.« Die Katze duckte sich, machte einen Buckel und sah diebisch nach links, nach rechts. »Wir gehen schlafen, aber die Nachtgestalten erwachen. Nachtmahre, Nachteulen, die Statuen, große, kleine, böse, langweilige, doofe, freundliche. Niemands Albträume beginnen. Die Nacht ist gefährlich. Sie ist dunkel.«
»Ja, so ist das bei der Nacht.« Nina lächelte.
»Du wirst schon sehen. Mädchen.« Lilly haute Nina mit einer Pfote gegen ihr rechtes Bein. Die Krallen hatte sie eingefahren.
Niemand betrachtete Nina. Sie hatte rosige Wangen bekommen, und er fand sie noch leckerlieblichzuckersüßer als zuvor.
»Und wann kommt die Nacht nun?«
»Vom Gefühl her«, mischte sich Niemand ein, »müsste die Nacht längst da sein.«
»Aber ihr redet die ganze Zeit davon, dass es bald dunkel wird. Wenn ihr nicht wisst, wann es dunkel wird, wie könnt ihr dann wissen, dass es bald dunkel wird?« Nina stemmte ihre Hände in die Seiten und sah Lilly an. Ihre Augen strahlten und sie grinste frech. Niemand war froh, dass die Unsichtbarkeit seine glühenden Ohren verbarg. Er liebte Nina. Dieses kleine, verrotzte Ding, das in seine Welt gefunden hatte, als hätte es nie eine Grenze zwischen ihrer und dem Niemandsland gegeben.
Die ABK putzte sich, fuhr mit der Pfote über ihr rechtes Ohr
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