Niemand
längst befreit und dauerhaft weinend über das Land taumelnd«, flüsterte sie. »Der Trauerkloß ist tot!« Sie schlug eine Hand vor den Mund und unterdrückte ein Schluchzen. Noch verstand sie die Worte nicht, die ihr vor den Augen verschwammen, es dämmerte ihr nur.
Nina wischte sich übers Gesicht, atmete tief durch und las weiter:
Und dort ist dieser Mann, nur ihn wollte ich lieben, niemand sonst. Ein so großer Fehler. Warum, Mutter, bin ich es, die diese Dinge alle beim Namen nennen muss?
Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Ich fürchte, ich habe alles falsch gemacht und dieses Land zu einem von Boshaftigkeit regierten Niemandsort werden lassen. Doch nur, weil ich aus Einsamkeit und Unwissenheit handelte. Ihr habt mich nicht darauf vorbereitet. Ihr habt mir nie gesagt, dass es schon so vieles gibt, dem ich einen Namen geben soll. All das, was sich in Höhlen versteckt hielt. Du hast mich nicht darauf vorbereitet. Du sagtest nur: »Geh, mein Kind, übernimm meine Aufgabe. Es muss dir gelingen!«
Und nun bist du tot, bist du tot! Und es gelingt mir nicht!
Längst getrocknete Tränen hatten die letzten Worte in ein verschwommenes Wasserfarbenbild verwandelt, neue Tränen erweckten die alten zum Leben. Nina weinte und wusste doch, dass sie den Schmerz, den die Verfasserin verspürt hatte, nicht annährend nachempfinden konnte.
Nina fühlte sich wie ein Spanner, aber sie verteidigte ihre Neugier, indem sie sich einredete, Klarheit über Niemand, seine Mutter und das Land zu erhalten, das … diesen Gedanken wusste sie nicht zu Ende zu formulieren.
Sie überflog die Zeilen, doch die Worte blieben wirr, voller Trauer und Verzweiflung, ohne einen Hinweis, wer Niemands Mutter war oder wie sie – Nina – Niemand helfen sollte.
Als sie den letzten Brief zur Hand nahm, hoffte sie so sehr, dass er ihr Antworten auf all ihre Fragen geben würde, dass ihr Herz unangenehm schnell schlug. Dieser Brief unterschied sich von den anderen. Er steckte nicht in einem Umschlag, lag nur zusammengefaltet auf dem Boden der Kiste.
Mutter, meine Briefe an dich sind alle zurückgekommen. Natürlich. So wie ich es im ersten Brief schrieb. Ich habe sie anstelle deiner geöffnet und gelesen. Mir ist klar geworden, welchen Fehler ich begangen habe. Es war ein Fehler, hierher zu gehen, es war ein Fehler, unwissend in diese namenlose Welt zu treten und zu glauben, daraus ein neues Land zu formen, mit bloßer Einbildungskraft. Diese Gabe, Mutter, ist ein Fluch! Warum hast du mir das verschwiegen? Du musst es doch gewusst haben, Mutter! Ich finde keine Namen, ich finde keine Regeln, nur zusammenhangslose Begründungen für einen Weg, den ich selbst nie werde einschlagen können, weil andere mir zuvorkommen werden. Andere, die ich geschaffen habe. Andere, die mich verlassen werden. Es ist meine Schuld. Das ist es. Ich finde keine Liebe, aber ich fand Niemand. Niemand.
Niemand!
Ninas Hände zitterten.
Mein Sohn. Er ist alles für mich und es gehört ihm alles, was Großes hätte entstehen sollen, aber nur klein geblieben ist, weil ich dumm und unwissend war. Ich werde ihm all das nicht vermitteln können, weil sein Vater ihn nach seiner Geburt von mir nahm. Er hat noch keinen Namen. Sein Vater, den ich zu lieben wünschte, wird mich töten, so wie er mein Kind töten wird, sobald er weiß, wie er sich selbst zum Herrscher dieses Landes krönen kann.
Nein! Niemand durfte nicht sterben! Nina fühlte sich kaum in der Lage, weiterzulesen. Aber sie musste. Sie hoffte so sehr auf Antworten. Auf eine Antwort. Ihre Finger bebten, sie atmete tief durch und brachte das Zittern unter Kontrolle.
Vorher werde ich sterben. Ich werde ihn nie beim Namen nennen können. Ich werde ihm nicht erklären können, was du mir hättest sagen müssen. Aber ich werde es all denen erzählen, die ich finden kann. Heute. Denn mir bleibt keine Zeit mehr. Niemand ist mein Sohn, sein Name ist die Macht, die er über das Land und seinen Vater haben wird. Sein Name wird ihm das Leben und die Kraft schenken, die er benötigt, um dieses Land zu seinem Land zu machen. Er wird herrschen und er wird es besser machen als du und ich, und alle vor uns, denn alle werden ihm helfen. Das wird mein Vermächtnis, mein Befehl. Dies und noch mehr.
Nur – wenn ich tot bin, werden meine Schöpfungen nicht mehr darauf hören, werden sie … resignieren?!
Niemand. Mein Sohn. Wenn du alt genug bist, musst du meine Aufgabe fortführen und
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