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Niemand

Niemand

Titel: Niemand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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neuer Geruch, den er bisher nicht an sich kannte. Welch interessante Mischung, die nun ein feiner Mandel-Marzipan-Duft überzog.
    Übermut. Übermut mehr als Mut – das war gut.
    Auf allen vieren kroch Überhaupt Niemand durch den kleinen Höhleneingang.
        

40.

    Nina setzte sich mit der Kiste aufs Bett. Staubfeen hüpften in die Lüfte und suchten Schutz in den Ecken. Der Deckel lag nur locker auf, sie nahm ihn ab und legte ihn zur Seite. Neugierig betrachtete Nina den Inhalt. Obenauf lag ein ovaler Handspiegel aus Gold, die Ränder mit filigranen Rosenblüten graviert. Sie nahm ihn heraus. Das Glas, fast blind vom Staub, wischte Nina mit dem Ärmel ihres Pullovers blank. Wache Augen, ein blasses, ihr fast fremd erscheinendes Gesicht – ihr Gesicht – blickte ihr daraus entgegen. Zum ersten Mal sah Nina, an welcher Stelle die Kreischzwerge ihr die Haarsträhne abgeschnitten hatten. Wie der Quast eines Pinsels stand die Hälfte ihres langen Ponys ab. Sie würde es wieder wachsen lassen. Oder sich eine Kurzhaarfrisur schneiden. Sie schüttelte den Kopf. Unwichtig.
    Ein schlechtes Gewissen beschlich sie, als sie den zuoberst liegenden Brief herausnahm. Doch sie musste Niemand helfen, und vielleicht entdeckte sie zwischen dieser ihr so normal und bekannt erscheinenden Vergangenheit aus Briefen eine Lösung.
    Darauf bedacht, dass keine Knicke oder Risse entstanden, zog sie den ersten Brief aus dem Umschlag, der fein säuberlich mit einem Messer geöffnet worden sein musste. Nina hatte mit einem Liebesbrief gerechnet, doch die schwer zu entziffernden Zeilen richteten sich an:
      
Liebe Mutter!
Ich weiß, diese Zeilen werden dich niemals erreichen, aber es gibt mir ein gutes Gefühl, sie auf den Weg zu bringen, wenn auch ohne Ziel. So wie ich. Ich fühle mich ziellos, bin allein. Aber du musst dir keine Sorgen machen. Du kennst dieses Land gut, besser als ich. Doch dein Vermächtnis zerdrückt mich, ich sehe mich nicht in der Lage, meine Aufgabe zu erfüllen. Ohne Kraft und Glauben, ohne Liebe an meiner Seite fehlen mir Ideen und Mut.
Dennoch, ich bin mir der Wichtigkeit bewusst und werde dich, meine liebe Mutter, nicht enttäuschen. Aber diese Einsamkeit, sie raubt mir den Atem. Ich wandere über Pfade, durch die Wälder und Gräser und nehme mir Zeit für das, was ich neu erschaffen, und für all das, was ich endlich beim Namen nennen soll. Es muss richtig sein und wirklich, es darf nichts Falsches werden und nichts, was zerstört. So ist es doch, oder? Oh, wenn du mir doch antworten könntest. Aber ich weiß, es geht nicht, ich weiß, ich muss alleine entscheiden. Aber ich fühle mich leer, mir will nichts einfallen, das diesen Ort mit mehr – und vor allem gutem – Leben füllen könnte.
In Liebe, Deine Tochter
      
    Ninas Hand zitterte, sie starrte auf die Zeilen, doch die Worte blieben für sie unverständlich. Sie drehte den Briefbogen um und hoffte weitere Informationen oder ein Datum zu finden. Nichts. Sie faltete das Blatt zusammen und schob es zurück in den Umschlag, auf dem keine Adresse, sondern nur ein Wort stand. Dieses eine Wort klang sehnsüchtig und voller Leid:
»Mutter«
    Nina weinte und dachte an ihre Eltern, an Suse. Und zum ersten Mal in ihrem Leben vermisste sie ihre Familie. Sie legte den Brief links neben sich auf das staubige Bett, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog einen Zettel aus dem Karton.
        

41.

    »Sie ist nicht gestorben. Du hast sie getötet! Und nun willst du Nina töten.«
    »Aber wer wird denn gleich das Schlimmste annehmen?«
    Niemand hörte seinen Vater einen weiteren Schritt auf ihn zukommen. Das war gut, er würde ihn von Nina weglocken und in die Höhle der siamesisch-verdrillingten Kreischzwerge bringen oder zum Arsch der Welt jagen. Noch hatte Niemand keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, er wusste nur eins: Er musste überleben und Nina retten.
    »Warum lässt du sie nicht gehen? Sie wird dir nicht schaden.« Und lauter fügte Niemand hinzu, denn er wusste, dass Niemand Sonst dieses Wort hasste und es ihn verletzte, als litt er an einem Pisskopp bei Gewitter: »Vater!«
    Niemand Sonst zuckte, sein Geruchsfaden führte eine Zickzacklinie aus und endete in einem muffigfeuchten Kellergeruch.
    Niemand grinste und dachte noch stärker an Nina, obwohl das kaum möglich schien. Er rief sich den Geruch ihres Haares in Erinnerung, ihren Herzschlag und hörte ihr Lachen, als stünde sie neben ihm. Das erste Mal strömte der

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