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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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heben, die ein Vielfaches dieser Wracks wogen.
    Die Wracks sollten aus dem seichten Wasser gezogen und an den Strand manövriert werden, um dort wie gestrandete Wale aufgeschnitten, demontiert und in Container aus dem Westen verladen zu werden. All das sollte also einmal so etwas wie eine »glänzende Geschäftsidee« gewesen sein, war in Wahrheit aber nichts als ein Deckmantel.
    Er redete sich ein, für das Geld, das er verdiente, wenigstens etwas tun zu müssen. Er hatte bei Unterzeichnung des Vertrags zweitausend Dollar erhalten, den Lohn für zwanzig Tage, was schon an sich ein Wahnsinn war. Er hatte jedoch in seiner Eigenschaft als Flußschiffer noch keine zwanzig Arbeitstage zusammenbekommen. Und ein guter Mann muß etwas für sein Geld leisten.
    Er war todmüde, als die Arbeit unterbrochen wurde. Der Wind hatte so sehr aufgefrischt, daß der hohe Windfang des Hebekrans die Bewegungen zu unkontrolliert und die Arbeit unsicher machte. In der kleinen offenen Fähre, die über den Fjord nach Murmansk ging, stand er eng mit den Arbeitern der Reparaturwerft zusammengedrängt, die offenbar gerade Schichtwechsel gehabt hatten. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es war zwar dunkel, doch von nun an würde es ohnehin überwiegend dunkel sein. Ich mache meinen Job und leiste gute Arbeit, redete er sich ein. Draußen bei der improvisierten Bahnstation war es das gleiche. Der Galgenhumor der Arbeiter hatte sie in Port Smertsch umbenannt, Hafen des Todes. Sämtliche Männer der Führungsgruppe dort unten waren Marineoffiziere, da die meisten Waffenexperten in der Region natürlicherweise der Sowjetflotte angehörten. Sie waren Seeleute an Land, die an einer Bahnstation den Tod sortierten, der in einem wilden Durcheinander hertransportiert wurde; immer noch fanden sich furchterregende Beispiele dafür, wie Eile und Panik in den Sowjetrepubliken, die wohl keine mehr waren, zu irrwitzigen Methoden führten, mit dieser Ladung umzugehen. Alexej Mordawin zog es vor, dieses Wort zu verwenden: Ladung. In den letzten Tagen war ihm zwanghaft ein Gedanke gekommen, den er nicht begreifen konnte, obwohl er immer wiederkehrte. Er war sicher grotesk ungerecht, und im Grunde gab es keine sichtbare Parallele. Doch ihm waren immer wieder die deutschen Soldaten und Offiziere kurz vor Zusammenbruch des Nationalsozialismus eingefallen, die sich bis zuletzt als Verwalter des Todes betätigt hatten. Es war ein unverschämter Gedanke und ein unmöglicher Vergleich, doch er wurde ihn trotzdem nicht los.
    Vom Fähranleger aus ging er nach Hause. Von dort war der Weg nicht mehr weit. Beim Café Ionost blieb er stehen und überlegte, ob er eine Tasse Kaffee trinken und sich ein wenig sammeln sollte, bevor er nach Hause ging. Dann würde es ihm leichter fallen, einen normal müden Eindruck zu machen und nichts sonst. Doch im Café schien es sehr laut und unruhig zuzugehen, und so nahm er die Abkürzung durch den Park zur Karl-Marx-Straße, die noch immer nicht umgetauft war, und erreichte kurz darauf das Haus, in dem er jetzt wohnte. Es war ein schönes Bauwerk, wohl aus der Zeit der Jahrhundertwende oder etwas später, mit leichten Anklängen an den Jugendstil. Es war gelb verputzt und hatte weiße Stuckornamente. Und einige Balkons. Als er zu dem höchstgelegenen Balkon hinaufsah, entdeckte er, daß in der Wohnung Licht brannte. Bei diesem Anblick durchströmte ihn wohlige Wärme. Wahrscheinlich las sie oder hörte Musik.
    Als er die Wohnung betrat, entdeckte er, daß sie sogar beides tat. Sie hatte sich in der Sofaecke mit hochgezogenen Beinen zusammengekauert und las intensiv, obwohl sie gleichzeitig die großen Kopfhörer trug. Sie hörte ihn also nicht und sah ihn auch nicht.
    Er stand in der Tür und betrachtete die Szene. Sie sah klein aus, fast zierlich, wie sie dort saß. Dabei war sie in Wahrheit seit dem achtzehnten Lebensjahr eine recht kräftige und stämmige Frau. Damals, vor langer Zeit, hatte er immer gesagt, sie stehe sehr stabil mit beiden Füßen auf der Erde, worauf sie immer erwidert hatte, er sei ein Träumer, der sicher Kosmonaut oder Seemann werden wolle.
    Sie sah plötzlich auf, als hätte sie seine Anwesenheit gespürt, denn sie verriet nicht das mindeste Erstaunen. Sie riß den Kopfhörer ab, sprang vom Sofa und lief ihm entgegen. Sie umarmte ihn und ging dann in die Küche. Er schlurfte hinter ihr her, um ihr bei der Zubereitung des Tees zu helfen, doch sie jagte ihn mit der scherzhaften Bemerkung hinaus, sie könne in

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