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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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und still. Es war ein Sommerabend wie jeder andere.
    Eero Grönroos rief zu Hause an und sagte, er werde später kommen. Es sei eine Komplikation eingetreten, die Estland betreffe und noch an diesem Abend bereinigt werden müsse.
    Dann holte er Papier und Bleistift hervor und zeichnete sorgfältig die Substanz des Gesprächs auf, Punkt für Punkt. Als das erledigt war, ließ seine Tatkraft nach. Denn jetzt mußte er Entscheidungen treffen. In diesem Moment war er der einzige Beamte in ganz Finnland, der ein furchtbares Wissen verwaltete. In diesem Moment lag die gesamte Verantwortung bei ihm. Es galt also, die Angelegenheit weiterzugeben.
    Die Frage war, an wen.
    Er selbst war Ministerialrat. Über sich in der Hierarchie hatte er einen Abteilungsleiter, und über dem Abteilungsleiter befand sich ein Staatssekretär, und dann war man schon beim Außenminister.
    Eine normale Angelegenheit wäre diesen Dienstweg gegangen. Wenn jedoch sensationelle oder pikante Erkenntnisse auf diesem Weg verbreitet wurden, würde das Gerücht den meisten Bewohnern Helsinkis schon nach zwei Tagen bekannt sein.
    Er konnte sich direkt an den Außenminister wenden oder zumindest an Juakko Blomberg, seinen nächsthöheren Vorgesetzten.
    Der Außenminister würde sich auf der Stelle zum Präsidenten begeben. Das war kristallklar. Für einen Juristen wie Eero Grönroos gab es da keinerlei Zweifel. Dem Grundgesetz zufolge war der Präsident der Republik für die Außen und Verteidigungspolitik des Landes zuständig. Die Angelegenheit konnte unmöglich am Präsidenten vorbeigeleitet werden.
    Am klügsten wäre es also, gleich zum Präsidenten zu gehen. Die Sache würde anschließend freilich in der Hierarchie hinunterwandern, beispielsweise zum Außenminister, der sich vielleicht fragte, weshalb es ein kleiner Ministerialrat für richtig hielt, den Chef des Ministeriums zu übergehen.
    Eero Grönroos versuchte das Für und Wider abzuwägen und kam nach einiger Zeit zu dem Ergebnis, daß in der einen Waagschale seine eigene kleine Karriere lag und in der anderen die Frage vagabundierender sowjetischer Kernwaffen, mit allem, was das für die Zukunft bedeuten mochte; soviel er wußte, waren die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Bomben mit heutigen Maßstäben gemessen kleine, ja nachgerade nur taktische Kernwaffen gewesen.
    Als er nach dem Hörer griff, rutschte er mit der Hand aus, da die Handfläche verschwitzt war. Er legte wieder auf, wischte sich die Hand am Hosenbein ab und nahm einen neuen Anlauf. Er rief den Kanzleichef des Präsidenten in dessen Wohnung an und erklärte leicht stammelnd, er bitte schon am folgenden Tag um einen Termin beim Präsidenten. Der Anlaß: Es gehe um eine Sache von so außergewöhnlicher Bedeutung, daß sie nicht warten könne.
    Der Kanzleichef des Präsidenten war am Telefon sehr kühl und gemessen und wies darauf hin, daß er Essensgäste habe und dienstliche Angelegenheiten am besten während der Bürozeit zu erledigen seien. Er wies auf die Unüblichkeit hin, daß Ministerialräte einen Termin beim Präsidenten der Republik verlangten, der im übrigen den ganzen folgenden Tag keine Zeit habe und auch nicht an den darauffolgenden Tagen. Und dann beginne das Wochenende.
    Eero Grönroos sagte jetzt etwas, was er sich noch vor wenigen Stunden nicht hätte vorstellen können. Er erklärte, er halte es zwar durchaus für möglich, daß er verrückt geworden sei, was sich gegebenenfalls sehr schnell herausstellen werde; dann könne man ihn ohne viel Federlesens aus dem Präsidentenpalast entfernen.
    Oder aber es gehe tatsächlich um eine die Außen und Verteidigungspolitik des Landes betreffende Frage von solcher Bedeutung, daß der Präsident an keinem der folgenden Tage auch nur annähernd eine so wichtige Angelegenheit zu behandeln habe.
    Eine Zeitlang wurde es still am Telefon, als könnte der Kanzleichef schon jetzt den offenkundigen Irrsinn diagnostizieren.
    »Ruf mich morgen früh zu Beginn der Dienstzeit an, dann werden wir schon irgendwo Zeit finden«, sagte er und legte hastig auf, um ein weiteres Hin und Her zu vermeiden und zu seinen Gästen zurückzukehren.
    Die Apfelernte war in vollem Gang. Der Alte kam ihnen inmitten der Bäume entgegen, als sie nach ihrer Ankunft im Gewimmel der polnischen Schwarzarbeiter dem Haus zustrebten. Der Alte trug einen Strohhut, hatte ein verschwitztes Gesicht und wischte sich die Hand an seinen blauen Arbeitshosen ab, bevor er Tessie begrüßte. Er schien von Tessie

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