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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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er einen Seitenblick auf ihre Nummern geworfen hatte. Dann blickte er in sein vermeintliches Protokoll und befahl, man solle sie getrennt in einen Stahlbehälter legen und in den Raum für allgemeine Problemfälle bringen.
    Eine halbe Stunde später wiederholte er die Prozedur mit drei neuen Sprengköpfen.
    Zwei Tage später, wenn eine neue Schicht eintraf, würde er drei beladene und versiegelte Stahlkisten zu den leeren Stahlkisten bringen lassen und sie in der hintersten Reihe auf dem Bahnsteig verwahren.
    Dann konnte die Zeit vergehen. Das Kontrollsystem betraf nur Behälter, die das Gelände verließen, und nicht Behälter, die irgendwo draußen auf einem Bahnsteig in der Wildnis lagen. Jeder Behälter mußte versiegelt und in ein Protokoll aufgenommen werden, bevor man ihn in einen Waggon verlud und der »Endlösung« zuführte. Er selbst sowie zwei untergebene Offiziere sollten die Verschließung überwachen und sie auf einem Begleitschein bestätigen. Folglich konnte kein Sprengstoff legal und unbewacht das Gelände verlassen.
    Nur illegal und unbewacht.
    Tonnenweise verließen jeden Tag demontierte Teile von Sprengköpfen und Metallhüllen das Gebiet, und zwar auf dem einzig denkbaren Weg. Mit der Eisenbahn nach Südosten, und das nach sorgfältigen Inspektionen. Sämtliche Vorgänge wurden durch Protokolle abgesichert, doch erst hier ging alles streng geregelt zu. Unter denen, die in Kasachstan, der Ukraine oder in Weißrußland nachts Eisenbahnwaggons beluden, konnte von Ordnung keine Rede sein. Und wenn irgendwo der Fehler mal entdeckt wurde, würde man nie feststellen können, wo die Fehlerquelle lag.
    Carl befand sich jetzt seit achtundvierzig Stunden in Moskau. Die Hälfte der Zeit hatte er in seinem Hotelzimmer auf Telefonate gewartet, die nie kamen, und die andere Hälfte war er planlos durch die Stadt geschlendert. Es war Herbst, wie er schlimmer nicht sein konnte. Am Himmel eine graue, dunstige Wolkendecke, die fast bis auf die Hausdächer herabzuhängen schien. Carl hatte den Eindruck, als würde sie die verseuchte Luft auf der Erde festhalten. Er hatte blutunterlaufene Augen wie nach zwei Tagen mit Skip Harrier, ohne jedoch einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben. Er betrachtete sich als im Dienst und trank daher nichts anderes als das salzige Mineralwasser aus Frankreich, das im Hotel Olympik Penta verfügbar war.
    Er hatte gehofft, das Hotel Metropol kennenzulernen, da die langjährige Restaurierungsarbeit endlich beendet war. Es schien aber irgendwie geregelt zu sein, daß dort nur Amerikaner wohnten. Im Hotel Olympik Penta wohnten Deutsche und Japaner. Das Essen war durch und durch deutsch, angefangen bei den gezuckerten Grapefruithälften bis hin zu den Weißwürsten zum Frühstück und dem Wiener Schnitzel und ähnlichem zum Mittagessen. Etwas Japanisches gab es nicht, so daß die Japaner im Hotel wohl den Deutschen zugeschlagen wurden.
    Das Hotel lag draußen am Prospekt Mir, dem Friedensboulevard, in der Nähe des Olympiastadions. Dies war ein Teil Moskaus, in dem er sich mühelos zurechtfand, und zwar aus einem einfachen Grund, den er nicht verdrängen konnte. Der geflüchtete Spion Stig Sandström hatte an der Verlängerung des Prospekt Mir gewohnt. Carl befand sich etwa auf halbem Weg zwischen Stig Sandströms ehemaliger Privatwohnung und der schwedischen Botschaft auf der anderen Seite der Moskwa. Das U-Bahn-Netz hatte er immer noch im Kopf. Er fuhr aus Mangel an Beschäftigung einige seiner memorierten Strecken ab, um sich die Zeit zu vertreiben. Die meisten Menschen, denen er begegnete, hatten rote Augen.
    Das Hotelzimmer sah aus wie jedes beliebige Hotelzimmer in einem beliebigen Land des Westens. Jedes Detail war aus dem Ausland importiert. Nicht einmal die Bettwäsche war russisch.
    Das Telefon war ein deutsches Fabrikat, aber er ging davon aus, daß es bei Auslandsgesprächen nicht funktionierte, obwohl eine Liste mit den Vorwahlen fürs Ausland neben dem Telefon lag. Er hatte Tessie gesagt, daß es schwierig sein würde anzurufen. In der Halle des Hotels Intourist gab es zwei Telefonzellen mit endlosen Schlangen wütender Ausländer, von denen sich jeder für wichtiger hielt als seine Nachbarn. Er war zweimal dort vorbeigegangen, ohne eine Verbindung zu erhalten, da der Automat behauptet hatte, seine American-Express-Karte sei ungültig.
    Der zweite Tag in Moskau war also schon fast zu Ende, als er aus fast therapeutischen Gründen im Zimmer zum Telefonhörer griff und die

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