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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Artilleriegranaten. Ein Eisenbahnwaggon war mit Artilleriegranaten beladen, die in einem wirren Durcheinander lagen, als hätte man gewöhnliche Munition in aller Hast verladen, um sie zu irgendeinem Schlachtfeld zu verfrachten.
    Die Granaten hatten einen Umfang von vierundzwanzig Zentimetern und waren mehr als eineinhalb Meter lang. Alle trugen das Warnzeichen für Atomstrahlung. An einigen war schon die Farbe abgeblättert.
    Alexej Mordawin hatte die Spezialisten zusammengetrommelt, um eine Erklärung zu erhalten. Doch alle waren genauso ratlos wie er. Gerüchteweise hatten sie gehört, daß es auch Atomwaffen in Form von »Atomkanonen« gab, doch im Hinblick auf die begrenzte Reichweite von Artillerie erschien ihnen das trotzdem phantastisch. In welche Windrichtung sollte man schießen?
    Sie einigten sich darauf, daß Geschosse, die mit einer solchen Technik abgefeuert wurden, nur beim Aufprall ausgelöst werden konnten. Folglich mußten sie sorgfältig nachsehen, ob die Granaten Zündrohre an der Spitze hatten. Es handelte sich in jedem Fall um eine veraltete Technologie, und angesichts der vermutlichen Lagerzeit war wohl keine der Granaten mehr gefährlich. Der Tritium-Teil des Zünders mußte inzwischen zu alt geworden sein.
    Aber woher sollte man es wissen?
    Die Bahnladung mit den Artilleriegranaten nahm das Interesse der Leitungsgruppe einen ganzen Tag in Anspruch. Die unerhörte Gefahr bewirkte zugleich, daß die Gefahr irgendwie nicht existierte. So hatte es beispielsweise keinen Sinn, das Gelände räumen zu lassen. Eine einzige Kernwaffendetonation an dem Ort, an dem man sich befand, würde vermutlich Konsequenzen haben, die sich nicht einmal errechnen ließen.
    Sie trugen die Granaten einzeln hinaus und stellten nach und nach fest, daß die Zündrohre an der Spitze fehlten. So wurde die Stimmung schon bald ausgelassen, und die Männer scherzten sogar wieder.
    Bis eine Granate auf einem quietschenden Schubkarren hinausgeschoben wurde, die dort, wo bei den anderen ein Loch gewesen war, ein knallrotes Zündrohr hatte.
    Es wurde vollkommen still in der Offiziersgruppe. Die Männer standen so, daß sie die Situation erfaßten, bevor die keuchenden und verschwitzten Marinesoldaten begriffen, was hier geschah.
    »Soldaten! Stellt die Karre ab und laßt sie auf der Stelle stehen!« befahl Alexej Mordawin.
    Die Männer gehorchten zunächst etwas träge, fast zögernd, doch dann blitzschnell, als sie die Lage erkannten.
    Die Offiziere gingen zu der Schubkarre und betrachteten die Granate. Dann blickten sie sich an und zuckten die Achseln.
    »Ist jemand der anwesenden Genossen Artillerieoffizier?«
    fragte Alexej Mordawin lächelnd und mit gespielter Lässigkeit. Zwei Mann traten einen Schritt vor und nahmen Haltung an.
    »Gut«, sagte er. »Ist Ihnen dieser Artillerietyp grundsätzlich bekannt, Genossen?«
    Sie blickten sich an, berieten kurz, sahen dann wieder zu Alexej Mordawin hin und bestätigten fast wie aus einem Mund, daß es sich im Prinzip um gewöhnliche Granaten handle, die aber für die Schlachtkreuzer älterer Zeiten hergestellt worden seien. In jener Zeit sei Artillerie die entscheidende Waffe der großen Kampfschiffe gewesen.
    »Gut«, sagte Alexej Mordawin mit der gleichen gespielten Ruhe. »Können die Herren es auf ihre Verantwortung nehmen, das Zündrohr zu entfernen? Ich möchte die Frage verdeutlichen. Wir können zweierlei beschließen: Entweder veranlassen wir einen abenteuerlichen Bahntransport mit einem Sonderzug und einem besonderen Abteil für unseren kleinen Genossen hier, Gott weiß wohin. Oder Sie können den kleinen Teufel entschärfen. Was schlagen Sie vor, Genossen?«
    Die beiden Spezialisten begannen mit einer geflüsterten Unterhaltung, während die Offizierskameraden herumstanden und sich den Anschein zu geben versuchten, als wäre nichts Besonderes los, als stünde keine schwere Entscheidung bevor. Sie sahen an die Decke, tasteten nach Zigaretten oder versuchten mit dem Nebenmann Konversation zu machen.
    »Herr Kapitän!« sagte einer der beiden, ein Korvettenkapitän.
    »Was das Zündrohr betrifft, glauben wir, es mit bekannter Technik zu tun zu haben. Wir glauben, wir können es entfernen. Aber wir wissen es nicht mit Sicherheit!«
    Alle blickten auf Alexej Mordawin. Er dachte, der Tod befindet sich in dieser Situation jenseits des Bewußtseins, jenseits aller Alpträume. Es ist der beste aller Tode. Als U- Boot-Offizier hatte er oft Anlaß gehabt, sich den schlimmsten aller

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