Niemandsland
Mitteilungen im Klartext. Aus diesem Grund wurde zusätzliches Personal in Form von Russisch-Dolmetschern angefordert, die stundenlang vor ihren Tonbandgeräten saßen und wie Simultandolmetscher gleichzeitig redeten.
Während der letzten Stunden hatten die Nachrichtendienste der USA und Schwedens mehr Mitteilungen ausgetauscht als während des gesamten vorhergehenden Jahres. Jemand hatte sogar vom »BBC World Service from Stockholm« gewitzelt, da der Begriff USA in solchen Zusammenhängen eine Anzahl weiterer Länder in der NATO-Gemeinschaft einschließt. Noch vor einigen Jahren, als der Begriff »Neutralität« für Schweden einen etwas präziseren Inhalt hatte, zumindest als heilige Kuh der Politik, wäre dieser intensive Austausch von Erkenntnissen der Nachrichtendienste höchst umstritten gewesen. Doch jetzt dachte niemand mehr über diese Frage nach. Was jetzt geschah, war eine Angelegenheit der ganzen Welt.
Für Schweden bestand keine unmittelbare Gefahr. Der gedachte Fall eines Staatsstreichs in Moskau war aus den meisten Blickwinkeln schon bestens geprobt, und da man von dem internationalen Luftraum über der Ostsee aus einen vollständigen Überblick über die gesamte baltische Küste hatte, waren einige wohlvorbereitete Kontrollflüge mit äußerster Sorgfalt durchgeführt worden. Dort war von signifikanter militärischer Aktivität der Sowjets nichts zu bemerken. Sollte ein Staatsstreichregime, das seine »nationale Rettungstat« höchstwahrscheinlich zu dem Zweck inszenierte, die Sowjetunion mit Gewalt zusammenzuhalten, etwa planen, das Baltikum dem Sowjetimperium wieder einzuverleiben, so war zumindest jetzt nichts davon zu bemerken. Man wollte offenbar zunächst den Griff um Moskau konsolidieren, was niemanden überraschen konnte.
Folglich war keine besondere Form einer schwedischen Mobilmachung nötig; ein Bürgerkrieg im Baltikum richtete sich schon definitionsmäßig nicht nach außen; in einem solchen Fall mußte daran gedacht werden, die erwarteten Flüchtlingsströme auf der Ostsee zu empfangen und zu verteidigen.
Samuel Ulfsson und Carl blieben nach einiger Zeit allein im Chefzimmer zurück. Sie waren düsterer Stimmung und müde und versuchten, ihre letzten intellektuellen Kräfte auf die Frage zu lenken, wie Samuel Ulfsson dem Oberbefehlshaber die Lage vortragen sollte. Sie hatten sich mehr als ein Jahr auf das, was jetzt geschah, vorbereitet, hatten geübt und diskutiert, doch als der Fall fast exakt so eingetreten war, wie man es geübt hatte, wurden sie trotzdem ein Gefühl von Unwirklichkeit nicht los.
»Teufel auch«, sagte Samuel Ulfsson und tastete in mehreren leeren Schachteln nach einer neuen Zigarette. »Teufel auch. Sie haben es getan, diese Dummköpfe haben es getan. Wer ist bis jetzt mit von der Partie?«
»In der untersten Schublade links«, seufzte Carl. Er hatte rote Augen, mehr wegen des Zigarettenrauchs als vor Müdigkeit.
»Wie?« fragte Samuel Ulfsson, der schon dabei war, in dem überquellenden Kristallaschenbecher nach den längsten Kippen zu suchen.
»In deiner untersten Schublade links, du hast noch eine Stange mit drei Schachteln drin«, fuhr Carl ohne Begeisterung fort. »Also, da haben wir sowohl den KGB-Chef als auch den Verteidigungsminister. Wenn wir nach dem Lehrbuch vorgehen, ist die Sache damit gelaufen.«
»Was heißt Lehrbuch«, sagte Samuel Ulfsson. Sein Gesicht hellte sich auf, als er feststellte, daß Carl zumindest in der Zigarettenfrage vollkommen recht hatte. »Gilt das Lehrbuch denn heute immer noch?«
»Woher soll ich das wissen«, sagte Carl, »aber KGB und Sowjetarmee gegen eine Partei, die nicht mehr existiert, bedeutet zumindest theoretisch, daß die Sache gelaufen ist. Obwohl man sich natürlich auch fragen kann, in welcher Hinsicht die Sowjetarmee noch existiert.«
»Genau!« sagte Samuel Ulfsson merklich aufgemuntert. Es war nicht auszumachen, ob es der zuletzt geäußerten Ansicht galt oder der neuen Zigarette, die er gerade anzündete. »Genau, existiert die Sowjetarmee noch?«
»Na ja, wenn wir jetzt über sie herfallen, würde sie wahrscheinlich munter werden«, überlegte Carl. »Und falls sie Riga besetzen sollten… tja. Aber Moskau besetzen, darüber haben wir immer nur Witze gemacht, und jetzt sind sie tatsächlich dabei, es zu tun.«
»Na schön. Jedenfalls keine Mobilmachung?«
»Nein, es sei denn als politische Geste. Wir geben lautstark unserer Mißbilligung Ausdruck und schlagen uns auf die Brust. Aber wenn
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