Niemandsland
eigenartige Gedanke, geschrumpft zu sein, als hätte all die Wärme, die aus ihm verschwunden war, ihn auch körperlich kleiner gemacht. Er hörte seinen jungen Neffen sprechen, es war seine Stimme, kein Zweifel. Doch dahinter war eine andere Stimme zu ahnen, etwas viel Größeres und entsetzlich viel Stärkeres und Intelligenteres. Hier saßen sie auf der zerfallenden Zementbank, auf der sich irgendein kleines Mädchen mit einem Eis in der Hand den Po hätte weh tun können, hier saßen sie, und alles war wahr und wirklich und auf unabänderliche Weise logisch. Es stimmte, daß er sterben würde, wenn er seinen Neffen denunzierte. Doch das war nicht entscheidend. Es gehörte zu seinem Job zu sterben, das hatte er vertraglich mit seiner Unterschrift besiegelt. Aber Jelena? Und die Kinder? Und sein Bruder und dessen Lümmel von Sohn und alle anderen in der Familie?
»Lassen Sie uns das Ganze in aller Stille einmal umdrehen«, ließ sich das Werkzeug einer höheren Macht an Alexej Mordawins Seite erneut vernehmen, »lassen Sie uns mal die andere Möglichkeit betrachten. Ich weiß, daß Sie ein sehr seriöser Mann sind, Onkel Alexej. Wenden wir uns also zunächst dem Politischen zu. Etliche arabische Genossen brauchen nicht zu sterben. Das Gleichgewicht des Schreckens gereicht auch Ihnen zum Segen. Können wir uns darauf einigen, daß wir von mindestens hunderttausend Menschenleben sprechen? Wir, das alte Wir, die Sowjetunion, können arme Menschen in der Dritten Welt ja nicht mehr schützen. Nun, soweit die Politik. Daß es vorteilhaft ist, wenn all die Menschen am Leben bleiben, die uns nahestehen, statt von Marineinfanterie füsiliert zu werden, brauche ich nicht besonders zu betonen. Nichts kommt an die Öffentlichkeit, was unleugbar ein großer Vorteil ist. Ihre Familie und die von Papa überlebt alle Krisen von Mütterchen Rußland, denn hunderttausend Dollar bringen Sie über alles hinweg. Leben und Glück oder Tod und Unglück – so einfach ist Ihre Wahl, Onkel Alexej.«
Alexej Mordawin antwortete nicht. Er wußte ganz einfach nicht, was er sagen sollte. Er war kein religiöser Mann, kannte jedoch einige christliche Legenden und erinnerte sich an etwas, was er in seiner Kindheit gehört hatte: daß der Teufel Menschengestalt annehmen und sich mit überirdischer Beredsamkeit für das Verderben der Menschen einsetzen kann, etwas in der Richtung. Er gluckste leise vor sich hin. Er war sicher, daß der junge Teufel an seiner Seite es mißverstehen würde. Doch dann erinnerte er sich mit der unbändigen Unlogik, die in der viel zu logischen Situation nötig war, an einen Gedanken, den er vor nicht allzu langer Zeit gedacht hatte, daß nämlich gerade jener Augenblick irgendwie der Höhepunkt seines Lebens war. Damals, genau in dem Moment, war er zum letzten Mal glücklich gewesen. Nein, zum letzten Mal nicht, das hatte er nicht gedacht. Wie hätte er so denken können? Doch er hatte um die Einmaligkeit des Augenblicks gewußt.
Åke Stålhandske fühlte sich so glücklich, wie er es noch nie gewesen war. Als er darüber nachdachte, ging ihm auf, daß er das Wort nie in den Mund genommen und kaum je gedacht hatte. Dabei war er keineswegs unglücklich gewesen. Von einer »unglücklichen Kindheit« oder ähnlichem konnte keine Rede sein. Doch ein solches Wort oder solche Gefühle waren ihm immer erschienen, als wären sie nur etwas für Frauen; ein richtiger Mann war verdammt noch mal nicht glücklich , zumindest kein richtiger finnischer Mann, und in einer ganz bestimmten Hinsicht war Åke genau das, mochte er auch schwedischer Staatsbürger und Offizier sein.
Weltkrise hin, Weltkrise her, sie hatten sich mehrere Tage lang besinnungslos geliebt. Sie hatten morgens damit angefangen, dann eine Dreiviertelstunde einen Geländelauf gemacht, geduscht und sich wieder geliebt, waren dann zur Arbeit gegangen, nach Hause geeilt, um sofort wieder loszulegen.
Anna hatte sich in ihrer Freizeit meist dem Hochsprung gewidmet, und so sah sie auch aus – 1,87 Meter ohne hohe Absätze; wenn sie solche Schuhe trug, die sie erst jetzt zu kaufen gedachte, reichte sie mit knapper Not an Åkes Körpergröße heran, wie sie ausgerechnet hatte.
Das war ein Problem gewesen. Sie beschrieb es sogar als einen Komplex, auf die meisten Männer hinabsehen zu müssen. Die mochten es nicht und zeigten es auch. Seit der Grundschule hatte man sie ihr ganzes Leben lang damit geärgert. Irgendwie hatte es alles andere ihres Äußeren überschattet,
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