Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
Vom Netzwerk:
Thema zu vertiefen. Er packte die Meereskrebse aus und präparierte alles für ihre Zubereitung. Er wollte sie in Calvados flambieren und mit französischen Kräutern würzen.
    Sie trugen das erste Gericht auf. In einer der geräumigen Speisekammern hatten sie sogar einen Kinderstuhl gefunden. Zur Gänseleber hatte er einen kräftigen Gewürztraminer aus dem Elsaß gewählt, außerdem eine Spätlese. Für die Krebse hielt er die letzte Flasche kalifornischen Far Niente bereit sowie einen Romanée Conti aus Burgund zu den Taubenbrüstchen, die den Meereskrebsen folgen sollten; sicherheitshalber hatte er auch einen Nachtisch bereitet, obwohl er nicht glaubte, daß sie ihn noch schaffen würden. Das taten sie auch nicht. Johanna Louise war die einzige, die davon aß. Inzwischen war es dunkel geworden. Als sie aufstanden und das schlafende Mädchen ins Obergeschoß trugen, hatten sie schon lange bei Kerzenlicht gesessen.
    Carl lag lange Zeit wach. Tessie schlief mit dem Gesicht an seinem Hals. Sie atmete vollkommen ruhig und gleichmäßig.
    Er sagte sich, endlich ist Ordnung ins Leben gekommen, als wäre er schließlich nach seinen Odysseen in einen sicheren Hafen gelangt; die Sentimentalität dieses Bildes war ihm sehr wohl bewußt. Er hätte es nie gewagt, so etwas laut zu sagen. Doch sich selbst gestand er es ein.
    So lag er vollkommen still und lauschte dem Atem der beiden anderen, bis die graue Morgendämmerung durch die dünnen weißen Tüllgardinen ins Zimmer drang und die Wahrscheinlichkeit zunahm, daß Johanna Louise bald aufwachte. Da schlief er ein, gleichsam mitten in einem Gedanken.
    Der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte war genauso lange schlaflos gewesen, doch aus ganz anderen Gründen. Er befand sich in einer Jagdhütte auf dem Land unter guten Freunden. Die Jagd war für ihn miserabel verlaufen. Er hatte seine einzige Schußgelegenheit auf einen recht ansehnlichen Bock verpaßt. Was ihn selbst betraf, fiel es ihm leicht, allerlei Entschuldigungen für seine mangelnde Konzentration zu finden. Da gab es einiges. Doch davon konnte er in der Jagdhütte nicht sprechen, durfte es nicht einmal andeutungsweise sagen.
    Er war drauf und dran gewesen, ganz einfach nein zu sagen, als der Chef des Nachrichtendienstes um ein eiliges Gespräch am Sonnabendvormittag gebeten hatte. Er wollte sich ja schon um drei Uhr mit seinen Freunden in der Jagdhütte treffen, obwohl es dann noch mehrere Stunden bis zur Pirsch dauern würde.
    Er hatte sich brummelnd mit Samuel Ulfssons Forderung einverstanden erklärt. Eine solche Forderung des Nachrichtendienstes abzulehnen war genauso unmöglich wie für dessen Chef, für sein Verlangen unwichtige Gründe vorzubringen.
    Daß es um etwas wie außenpolitische Komplikationen gehen mußte, hatte der Oberbefehlshaber schon vermutet. Daß es auch um die lästige Frage gehen konnte, welche Regierung gewarnt werden sollte, war auch leicht vorherzusehen. Doch seine Phantasie war nicht einmal in die Nähe des Schreckensszenarios gekommen, das nach nur wenigen Minuten Vortrag durch Samuel Ulfsson wie ein Menetekel an der Wand stand.
    Vagabundierende Kernwaffen, das war der Alptraum schlechthin. Die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki waren mit achtzehn oder zwanzig Kilotonnen »kleine« Kernwaffen gewesen, Waffen, die nach heutiger Terminologie als »taktische Kernwaffen« galten. Was auch immer aus der Sowjetunion nach Finnland und schlimmstenfalls nach Schweden geschmuggelt werden sollte, würde mit großer statistischer Wahrscheinlichkeit etwas sein, was diese »kleinen«, auf Japan abgeworfenen Bomben bei weitem übertraf.
    Es war eine Situation, die alle normalen Rücksichtnahmen und Entscheidungsprozesse beiseite fallen ließ. Der Oberbefehlshaber übersah die unnötige amerikanische Drohung, mit irgendeiner Teufelei zu reagieren, falls die schwedischen Kollegen nicht spurten. Kein vernünftiger Mensch, der auch nur im mindesten die praktischen Mittel besaß, die Katastrophe zu verhindern, konnte sich dieser Verantwortung entziehen. Wenn der finnische Präsident auf Grund irgendwelcher formaljuristischer Bedenken zögerte, war das schon an sich unbegreiflich, mußte aber doch damit enden, daß Verfassungsüberlegungen und derlei hier nicht im Weg stehen durften. Angesichts einer Kernwaffenkatastrophe war ein skandinavisches Grundgesetz nicht mehr wert als ein Fetzen Papier in der Hölle.
    Der Oberbefehlshaber wälzte sich in seinem dampfenden Schlafsack hin und her. Sie waren

Weitere Kostenlose Bücher