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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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schon erholt?«
    »Erholt, wovon? Sie war charmant. Sie
hat gerade angerufen und vorgeschlagen, daß wir uns zum Lunch treffen. Damit
wir uns noch besser kennenlernen.«
    »Wie bitte? Gehst du hin?«
    »Sicher. Ich habe heute keine Vorlesung
und hing ein bißchen in der Luft.«
    »Also gut. Vielleicht kannst du ihr
etwas Vernünftiges beibringen. Weißt du, womit sie mich gestern abend, als wir
wieder zu Hause waren, überfallen hat?« Ich erzählte ihm ziemlich ausführlich
von Mas Plänen.
    Als ich fertig war, schwieg er einen
Augenblick. »Also, ich kann mir vorstellen, was das für ein Schock ist.«
    »Ein Schock? Das kommt einem Erdbeben
gleich! Sie ist dabei, einen schrecklichen Fehler zu machen.«
    »Bist du sicher? Nach dem, was du mir
über deine Eltern gesagt hast, führen sie seit einiger Zeit kaum mehr eine
richtige Ehe. Und wenn sie diesen Melvin seit einem Jahr kennt, dann ist das ja
keine plötzliche Schnapsidee.«
    »Darum geht es nicht, George.«
    »Worum dann?«
    »...Ich weiß nicht. Es ist nur... Ach,
verdammt, ich möchte jetzt nicht darüber reden. Wohin fährst du mit ihr?«
    »Sie gab mir einen Wink, daß sie noch
nie im Top of the Mark war.«
    »O Gott! Ich hätte ihr nie sagen
sollen, daß du Geld hast.«
    »Ich wüßte nichts Besseres damit zu
tun, als es auszugeben.«
    Wollte er mir auf die Weise sagen, daß
er kein Kind hatte, dem er sein beträchtliches Vermögen hinterlassen konnte?
Oder litt ich bloß unter einer Paranoia? Schnell sagte ich: »Gut, dann lasse
ich dich jetzt mal gehen, damit du nicht zu spät zu deinem großen Rendezvous
kommst.«
    »Wünsch mir Glück.«
    »Ich glaube, du brauchst es.«
    Ich hängte ein, drehte mich auf dem
Sessel zum Fenster und sah auf die Bucht hinaus. Trotz des Sonnenlichts und der
herbstlich gefärbten Bäume sah der dreieckige Park vor All Souls freundlos und
wenig einladend aus. Die Häuser auf der anderen Seite wirkten schäbiger als
sonst und verlassen. Manchmal, wenn ich nachdenklich aus meinem Bürofenster
schaute, hatte ich das unheimliche Gefühl, ich wäre der einzige Mensch hier auf
den Bernal Heights und alle anderen wären vor irgendeiner bevorstehenden Gefahr
geflohen, deren Warnzeichen ich nicht zur Kenntnis genommen hatte.
    Ich wußte zwar, daß diese
Wahnvorstellung nur die Folge meiner gegenwärtigen Stimmung war, aber ich hatte
sie nicht zum erstenmal. Sie schien mich neuerdings häufiger heimzusuchen. Litt
ich noch unter einem posttraumatischen Schock aufgrund der Ereignisse im letzten
Sommer? Oder war das große Erdbeben die Ursache? Beides schien wenig
wahrscheinlich, aber wenn weder das eine noch das andere der Grund waren, dann
wollte ich nicht darüber spekulieren, ob...
    Ich drehte mich wieder zum Schreibtisch
und läutete bei Rae an, um sie daran zu erinnern, daß ich heute den Lunch
kaufen würde. Ihre Reaktion auf die Bombe, die meine Mutter gezündet hatte,
fiel um einiges befriedigender aus als die von George, und vielleicht würde
meine Familienkrise uns dabei helfen, den Bruch zwischen uns zu überwinden, so
wie gestern unser gemeinsames Lachen.
     
    San Francisco ist zu großen Teilen wie
ein Gitternetz angelegt — die Avenues im Westteil der Stadt sind dafür ein
gutes Beispiel — , aber wenn man die Hügel hinauffährt, verschwindet dieser
Eindruck von Ordnung. Hier geht es vor allem darum, einen möglichst guten
Ausblick zu haben. Die Straßen winden sich eng an Steilhängen hoch, und die
bedenkliche Lage der Häuser ist ein Zeugnis für die Wunder, die moderne
Ingenieurskunst ermöglicht, oder auch für menschliche Torheit. Man kann sich
leicht in dem Gewirr von schmalen Straßen und Sackgassen, die unsere Hügel
bedecken, verirren — und genau das passierte mir am späten Nachmittag bei der
Suche nach Lionel Ongs Haus.
    Als ich auf der Straße landete, die am
Sutro Forest entlangläuft, einer Wildnis mitten in der Stadt am Fuß des
rostroten, futuristischen Fernmeldeturms, merkte ich, daß ich mich verfahren
hatte. Also fuhr ich die Route zurück und kam darauf, daß ich einen Block
tiefer die Saint Germain Avenue übersehen hatte. Sie war eng und kurz und
endete vor einer Stützmauer aus Backsteinen, hinter der hohe Koniferen und
Zypressen einem Panoramablick den richtigen Rahmen gaben. Die Häuser rechts
waren hoch und den Hang hinauf gebaut worden, so daß man aus den Fenstern über
die Dächer der Nachbarn hinwegschauen konnte. Auf der linken — auf Ongs Seite —
waren sie flach und lagen über den

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