Niemandsland
da...?«
Sie beobachtete mich. Im Feuerschein
ließ sich an ihrem Gesichtsausdruck nichts ablesen.
»Ich meine, hast du...?«
Sie lächelte. Verdammt, es macht ihr Spaß, mich nach der Frage strampeln zu sehen, ob sie einen
Liebhaber hatte!
Schließlich gab sie nach. »Ja, es gibt
da einen Mann. Er geht mit mir aus, redet mit mir und behandelt mich wie eine
Lady. Er kredenzt mir Champagner und kocht mir Dinners wie dir dein Freund
George. Und natürlich haben wir auch Spaß an anderen Dingen — «
Ich hob meine Hand zu einer Geste, die
›Darüber will ich gar nichts wissen‹ sagen sollte. »Ma«, fragte ich, »wer ist
dieser Mann? Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Er heißt Melvin Hunt. Er ist
siebenundfünfzig.« Sie lächelte hinterhältig. »Ein jüngerer Mann und gut
betucht. Ich habe ihn im Waschsalon kennengelernt, in den ich seit drei Jahren
jede Woche gehe, weil dein Vater ja nicht mit der Reparatur meiner
Waschmaschine belästigt werden kann und keinen Handwerker bezahlen will.«
»So gut betucht kann er nicht sein,
wenn er in einem Waschsalon verkehrt.«
Ma schenkte mir einen vernichtenden
Blick. »Melvin gehört die ganze Kette.«
»Oh. Hast du also vor, diesen Mann zu
heiraten?«
»Nein, das habe ich nicht. Aber sobald
ich wieder in San Diego bin, ziehe ich zu ihm.«
Jetzt verstand ich, warum sie so
gelassen auf die Frage reagiert hatte, ob ich zu George ziehen sollte. Es war ein Trick gewesen, damit ich ihre Beziehung zu diesem...
wie hieß er noch? ... akzeptierte. Und ich verstand auch anderes, was mich im
Laufe des Abends so verwirrt hatte. Ihre Revision unserer Familiengeschichte
war ein Versuch, sich selber darin zu bestärken, daß sie ihren Kindern eine
gute Mutter gewesen war und nun verdient hatte, sich eines neuen Lebens zu
freuen. Ihre plötzliche Anerkennung, daß Geldhaben in Ordnung war, und ihre
Nachsicht gegen Scheidungen sollten helfen, ihre Zukunftspläne zu
rechtfertigen.
»Ma«, sagte ich, »wie lange kennst du
diesen Mann?«
»Er hat einen Namen, Sharon. Und ich
kenne Melvin jetzt seit einem Jahr.«
Ein ganzes Jahr. Bei allen unseren
Telefongesprächen, beim letzten Erntedankdinner und bei meinem kurzen Besuch im
Mai hatte sie die Existenz dieses... Menschen vor mir verschwiegen. Vor uns
allen. Ich stand auf, überwältigt.
»Wohin gehst du?«
»Auf die Toilette. Wenn du willst, nimm
dir selbst noch einen Brandy.« Sie wollte es. Sie hatte einiges an besonderen
Vorlieben entwickelt, seit sie mit... ihm zusammen war.
Ich eilte durch den Flur, durch meinen
privaten Wohnraum und die Küche ins Badezimmer, schloß die Tür hinter mir und
lehnte mich dagegen.
Das kann nicht wahr sein, dachte ich.
Mütter rennen nicht einfach mit Männern weg, die sie in Waschsalons kennenlernen.
Auch dann nicht, wenn ihnen die ganze verdammte Kette gehört.
Wie konnte sie mir das antun?
Mir kamen die Tränen. Ich versuchte,
sie wegzublinzeln, aber sie kamen einfach.
Nun sehe sich einer an, was sie mit mir
gemacht hat!
Die ganze Sache war absurd, gehörte
sich nicht. Mit diesem Mann eine Affäre zu haben. Sie verhielt sich nicht ihrem
Alter entsprechend!
Aber daß sie es fertigbrachte, mich
deswegen zum Heulen zu bringen...
Ich schaltete das Licht ein, stützte
mich mit beiden Händen auf den Rand des Waschbeckens und beugte mich zum
Spiegel vor. Das war ein Trick, den unsere Mutter uns allen beigebracht hatte,
als wir noch klein waren: Sich anzusehen, wie lächerlich man aussah, wenn man
weinte, war das beste Mittel, damit aufzuhören.
Das Gesicht, das mich aus dem Spiegel
anschaute, hätte einem quäkenden kleinen Baby gehören können. Bis auf die lange
graue Strähne im Haar, die sich dort schon in meiner Teenagerzeit angesiedelt
hatte. Um die Augen gab es einige Lachfalten. Und da war ja noch eine Runzel,
die ich bisher gar nicht entdeckt hatte...
Wie konnte sie mir das antun?
Nun sehe sich einer an, was sie mit mir
gemacht hat!
Sie verhielt sich nicht ihrem Alter
entsprechend
Sie verhielt sich nicht ihrem Alter entsprechend?
Der Flunsch verschwand aus meinem
Gesicht, und zugleich stieg ein Lachen in mir hoch. Die bislang nicht entdeckte
Runzel über der Braue glättete sich. Die Tränen versiegten.
Ich kicherte. Legte den Kopf zurück und
lachte laut los.
Die Tür ging auf. Ma sagte: »Ich habe
mir gedacht, daß ich dich vor dem Spiegel finde. Es klappt immer, nicht?«
14
Um halb neun saß ich am nächsten Morgen
an meinem Schreibtisch. Zu Hause in
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