Niemandsland
Anrufs, die kleinen Anzeichen eines Kampfes, das paßt
alles ein wenig zu gut zusammen.«
Ich dachte einen Augenblick darüber
nach. »Aber warum? Ong weiß nicht, daß ich Ermittlungen anstelle. Er hält mich
für eine freie Journalistin.«
»Ich meine auch nicht, daß er dich
persönlich reingelegt hat. Du kamst nur im rechten Augenblick. In meinen Augen
wollte er eine Entführung vortäuschen, und dazu brauchte er eine Zeugin.«
Das Szenario, das Hank da entwarf, kam
mir verwirrend bekannt vor. Zuerst war Mick Erickson nach einem ausgeklügelten
Plan untergetaucht. Jetzt hatte Ong wahrscheinlich das gleiche getan. Und
Ericksons verdeckte Abwesenheit hatte ein tödliches Ende gefunden...
»Na gut«, sagte ich schließlich, »so
können wir den ganzen Tag weiterspekulieren.«
»Komm jetzt lieber da raus. Wir
unterhalten uns später weiter.«
Ich dankte ihm und hängte ein. Jetzt
hatte ich es eilig, der bedrückenden Stille in Ongs verlassenem Haus zu
entkommen. Aber als ich das Büro gerade verlassen wollte, fiel mir etwas ins
Auge — etwas, das mir weniger falsch als unpassend vorkam. Ich blieb in der Tür
stehen und starrte es an.
Es war der einzige chinesische
Gegenstand, der mir im ganzen Haus aufgefallen war: das Bild einer
Tannenlandschaft, über der ein zerklüfteter Berg thronte. Im Vordergrund waren
kleine, zeltähnliche Gebilde — vielleicht Pagoden? — zu erkennen und noch
kleinere Gestalten mit Kulihüten auf den Köpfen. Auf der rechten Seite standen
ein paar Reihen senkrecht nach unten verlaufender, fein gepinselter
Schriftzeichen, aber unten war auf einer aufgesetzten Inschrift in englisch zu
lesen: »Gum San, 1852.«
Was mir daran unpassend vorkam, war
natürlich die Tatsache, daß so ein Bild in einem Haus hing, dessen Familie
entschlossen zu sein schien, alle Erinnerungen an ihre Herkunft zu tilgen. Doch
auch das Bild selbst — prominent an der Wand gegenüber dem Schreibtisch
aufgehängt — kam mir seltsam vor. Es war nicht auf Papier oder Seide gemalt,
wie ich das von den chinesischen Stücken im Museum kannte, sondern auf Leinen,
in diesem Fall sogar auf Grobleinwand. Sogar meinem ungeschulten Auge kam die
Ausführung amateurhaft vor, und die englische Unterschrift war offenbar später
hinzugefügt. Ihr mangelte es völlig an der kalligraphischen Kunst, die die
chinesischen Schriftzeichen immerhin noch aufzuweisen hatten. Wenn das Bild
auch ziemlich alt zu sein schien, hätte ich es doch für billigen Touristenkram
gehalten, wenn ich mir hätte vorstellen können, daß Lionel Ong sich ein Werk
rahmen läßt und in seinem Büro aufhängt, das aus einer Mappe von den Gehsteigen
der Grant Avenue stammte.
Ohne lange zu überlegen, riß ich ein
Blatt Papier von einem Notizblock auf dem Schreibtisch und schrieb mir die
Worte »Gum San, 1852« auf. Dann befolgte ich Hanks Rat und verließ das Haus.
Der beratende Geologe von Transpacific,
Alvin Knight, wohnte ganz in der Nähe in einem ruhigen Wohnviertel zwischen dem
Mount Davidson Park und dem Monterey Boulevard nahe der Südgrenze der Stadt.
Ich hielt an einer Telefonzelle in einem kleinen Einkaufscenter am oberen Ende
der Portola an und wählte Knights Nummer. Er meldete sich, und ich erklärte
ihm, daß ich gerade mit Lionel Ong gesprochen hätte. Ich fragte, ob ich bei ihm
vorbeischauen dürfe. Knights Antwort klang zögernd, aber er war einverstanden
und sagte mir, wie ich fahren mußte.
Die Straßen in dem Viertel sind genauso
steil und gewunden wie in Ongs Gegend, aber das ist auch schon die einzige
Ähnlichkeit. Die kleinen verputzten Reihenhäuser stehen nah an den schmalen
Gehsteigen, es gibt keine oder nur winzige Gärten, und der Blick — soweit noch
vorhanden — öffnet sich auf andere Hügel mit ähnlichen Häusern. Es ist eine
Gegend, in der Familien der Mittelklasse ihren Kampf gegen die hohen
Lebenshaltungskosten in San Francisco führen — Kosten, die unangemessen
scheinen angesichts der Einförmig- und Eintönigkeit und der Entfernung ihrer
Behausungen vom Herz der City.
Knights Haus unterschied sich von denen
der Nachbarn nur durch seinen seltsam blauen Anstrich und einen feuerroten
Hydranten vor der Tür. Ich parkte etwas weiter den Hügel hinauf, zog die
Handbremse fest an und wanderte wieder abwärts. Der Geologe — ein
kleingewachsener, untersetzter Mann, dessen sonnengegerbte Haut ihn als
jemanden auswies, der viel Zeit im Freien verbringt — war nach meinem Klingeln
gleich an der Tür. Er führte
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