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Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe

Titel: Nietzsche und Wagner: Geschichte einer Hassliebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Decker
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schlafen. Und ist oben eigentlich oben, wenn man nicht hinuntersehen kann? Regen und Nebel. An Abstieg aber ist auch nicht zu denken. Also sitzen die schlaflosen Tribschener oben auf dem Pilatus und tun das Nächstliegende: Sie lesen Schopenhauer, die »Parerga und Paralipomena«. Vielleicht lesen sie auch die Einführung ins Glück. Was einer hat und was einer vorstellt, mag zählen, aber immer »kommt es darauf an, was einer sei und demnach an sich selber habe: denn seine Individualität begleitet ihn stets und überall und von ihr ist alles tingiert, was er erlebt. In allem und bei allem genießt er zunächst nur sich selbst.« 179 Daher sei das englische »he enjoys himself in Paris« ein sehr treffender Ausdruck. »Also nicht: ›er genießt Paris‹, sondern: ›er genießt sich in Paris‹«. 180 Ebendas ist es. Sie genießen sich nicht auf dem Pilatus.
    Richard Wagner glaubt bald zu wissen, was sie falsch gemacht haben. Es sei nicht richtig gewesen, »Zerstreuungen zu suchen, wie sie die andren Leute brauchen, uns würde so eine Partie nie glücken« 181 . Und er wolle von nun an zwanzig Jahre leben »ohne sich zu rühren, mit mir und den Kindern«. Wie sehr hätte auch Friedrich Nietzsche ihn für diesen Vorsatz geliebt. Doch eben da rührt sich die Welt.
    Freund Hans Richter war schon abgestiegen, nun steigt er vor Schreck den Pilatus gleich wieder hinauf. 15. Juli. Die Franzosen beschließen den Krieg! Und Rom die Unfehlbarkeit des Papstes.
    Es ist ein makelloser Sonnentag, die Karawane schwankt abwärts, weltwärts, heimwärts. Und kriegwärts, hasswärts auch.
    König Ludwig war noch immer nicht in der »Walküre«, zwei Aufführungen hat er schon verpasst, wahrscheinlich, weil es selbst ihm im Augenblick unmöglich ist zu sagen, um die Politik kümmere er sich später. Er ist ganz betäubt vor lauter Regieren.
    Vor vier Jahren hatte sein Königreich noch aufrecht gegen die Preußen gekämpft; im Grunde sagt er sich wie Österreich: Sind diese Nordlichter nicht die eigentlichen, gewissermaßen unsere natürlichen Feinde? Natürlich sind sie das: Provozieren einen Krieg genau in dem Augenblick, da er in die Oper gehen will. Ja, wäre er zur »Walküren«-Premiere gegangen, am Vorabend des Krieges, wie man jetzt wohl sagen muss. Aber der König wollte gleich »Das Rheingold« und »Die Walküre« nacheinander sehen. Und nun steht die Ehre eines süddeutschen Katholiken auf dem Spiel, und wenn die Preußen diese Ehre verteidigen wollen, darf er dann abseits stehen? Am 16. Juli ruft Ludwig den »Bündnisfall« aus.
    Cosima und Wagner haben die erste Nacht zu Hause wieder nicht geschlafen, diesmal vor weltgeschichtlicher Erregung nicht. Am gleichen Tag, als Ludwig seine Kriegsbereitschaft erklärt, erklärt Cosima auch die ihre. Die übernächtigte französisch erzogene Halbfranzösin schreibt dem fußlahmen Baseler im Bett, dass ihr »die französische Arroganz« noch nie so »hassenswürdig« erschienen ist, ja, »dieser Krieg sei nothwendig wie unausbleiblich, und man muss wünschen dass er geführt werde bis zur Vernichtung einer Eitelkeit und einer Frechheit die jeden Frieden unmöglich macht«. 182 Ihre Tochter Eva, die schon den beinversehrten Eisläufer Nietzsche beobachtet hatte – »War mal Herr Nützsche, gute Herr Nützsche, ging aufs Eis die Nützsche …« –, lässt dem nunmehr Lahmen ausrichten, sie empfehle einen Stock.
    Wahrscheinlich hat der Bettlägrige sofort zurückgeschrieben, was nach Cosimas Bayreuther Nietzsche-Autodafé nie mehr zu überprüfen ist. Er, den nicht wenige und nicht vollkommen abwegig als rhetorischen Vater der Kriege der Zukunft verstehen werden, wendet sich am selben Tag aber auch an seinen vertrautesten Freund, und da ist nichts von Cosimas Hass, nichts von wie auch immer gedämpfter Kriegslust: Hier ein furchtbarer Donnerschlag: der französisch – deutsche Krieg ist erklärt, und unsere ganze fadenscheinige Kultur stürzt dem entsetzlichsten Dämon an die Brust. Was werden wir erleben! Freund, liebster Freund, wir sahen uns noch einmal in der Abendröthe des Friedens. Wie danke ich Dir! Wird Dir das Dasein jetzt unerträglich, so komme wieder zu mir zurück. Was sind alle unsre Ziele!
    Wir können bereits am Anfang vom Ende sein! Welche Wüstenei! Wir werden wieder Klöster brauchen. Und wir werden die ersten fratres sein!
    Der treue Schweizer 183
    Kriegseuphorie und Reichserwartung klingen anders. Der Verstand ist doch zuletzt immer ein Zivilist, und Friedrich

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