Niewinter 01 - Gauntlgrym
grässlich schmeckte, dass er kaum je gestohlen wurde.
Barrabas, der das Getränk in einem Zug herunterkippte, half der Rum beim Übergang in einen höheren Bewusstseinszustand, in dem ihm sein jahrelanges Training und seine Erfahrung kristallklar erschienen. Kurz darauf schloss er die Augen und spürte die unausweichliche Benommenheit nach dem Genuss eines so starken Gebräus. Immer wieder konzentrierte er sich mit aller Macht darauf, dieses dumpfe Gefühl zu durchdringen, um sich absolut bereit zu machen.
»Noch einen?«, fragte der Mann an der Theke.
»Beim nächsten liegt er flach!«, meinte ein stinkender Kerl, worauf seine drei Kameraden, die alle deutlich schwerer waren als Barrabas, in schallendes Gelächter ausbrachen.
Barrabas sah den Mann interessiert an. Der Narr verstand anscheinend nicht, dass der Mörder sich fragte, ob er erst einmal die vier Grobiane hier umbringen und dann seinen Auftrag wie befohlen durchführen sollte.
»Was willst du?«, wollte der Mann wissen.
Barrabas zuckte nicht mit der Wimper, lächelte nicht und zeigte auch sonst keinerlei Gefühle. Er stellte das Glas ab und wandte sich zum Gehen.
»Hey, komm schon, trink noch einen«, forderte einer der Freunde ihn auf und trat neben Barrabas. »Wir wollen doch mal sehen, ob du danach noch stehst!«
Barrabas hielt kurz inne, würdigte den Mann jedoch keines Blickes.
Für diese Beleidigung verpasste der Betrunkene ihm einen Stoß – oder versuchte es zumindest. Doch in dem Moment, als die Hand ihn berührte, riss Barrabas seine eigene Hand hoch, hakte seinen Daumen von oben hinter den des Mannes und zog ihn dann mit solcher Wucht nach unten, dass der Grobian seitlich zu Boden ging. Seine Hand war auf den Rücken gedreht.
»Brauchst du zwei Hände, um die Fische in dein Boot zu ziehen?«, fragte Barrabas ruhig.
Als der Mann sich losreißen wollte, anstatt ihm zu antworten, drehte Barrabas gezielt weiter und richtete seinen Druck so aus, dass sein Gegner nicht wieder hochkam.
»Bestimmt brauchst du sie, und um deiner Familie willen will ich dir dieses eine Mal noch verzeihen.« Damit ließ er den Raufbold los. Dieser kam taumelnd hoch, während Barrabas zur Tür gehen wollte.
»Ich habe gar keine Familie!«, schrie der Mann ihm nach, als wäre diese Bemerkung eine Beleidigung gewesen. Barrabas hörte, wie er heranstürmte.
Im letzten Moment drehte er sich um und hob beide Hände, um den Betrunkenen abzuwehren. Gleichzeitig riss er das Knie hoch, was den Angreifer abrupt zum Stehen brachte. Die vielen Gäste der Taverne, die den Zwischenfall beobachteten, wussten nicht recht, was geschehen war, nur dass der Säufer plötzlich angehalten hatte und irgendwie an dem viel Kleineren festhing.
»Und jetzt wirst du auch nie mehr eine haben«, zischte Barrabas dem Mann zu. »Umso besser für diese Welt.«
Vorsichtig schob er den anderen zurück und half ihm sogar, sich zu fangen, obwohl der Mann ins Leere starrte und wahrscheinlich zu keinem Gedanken mehr fähig war, denn er knickte zusammen, und seine Hände bewegten sich in die untere Mitte, wo er mit zitternden Fingern seine gequetschten Hoden umfing.
Ohne ihn weiter zu beachten, verließ Barrabas die Taverne. Im Hinausgehen hörte er ein Poltern und wusste, dass der Dummkopf zusammengebrochen war. Dann folgten wie erwartet die wütenden Schreie seiner drei Kameraden, sobald der erste Schock überwunden war.
Fluchend und schimpfend stürmten sie ins Freie, wo sie sich nach allen Seiten umschauten, hin und her rannten und in die leere Nacht brüllten. Nachdem sie mit geballten Fäusten Rache geschworen hatten, gingen sie wieder ins Haus.
Barrabas saß mit den Beinen baumelnd auf dem Dach der Taverne, sah ihnen zu und seufzte über so viel vorhersehbare Idiotie.
Bald darauf stand er auf der Rückseite des großzügigen, vierstöckigen Herrenhauses des Grafen. Hugo Babris schien ein vorsichtiger Mann zu sein, denn zu Barrabas’ Überraschung marschierten etliche Wachen über das Gelände und über die Balkone. Der Mörder kannte solche Vorsichtsmaßnahmen von anderen Herrschern, die sich schwach fühlten und deshalb zu erheblichen Schutzmaßnahmen griffen. Normalerweise bedeutete dies, dass der Herrscher als Strohmann fungierte, eine Marionette der wahren Drahtzieher im Hintergrund. Wer das jedoch in der fremden, rasch wachsenden Stadt Niewinter sein mochte, war Barrabas noch nicht klar. Vermutlich Piraten oder eine Kaufmannsgilde, die von den Erlassen von Hugo Babris
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