Niewinter 4: Die letzte Grenze
antwortete die Zwergin zuversichtlich.
»Und dann?«
Sie zuckte mit den Schultern, als wäre das nicht von Belang.
»Dann ist das doch vergebliche Liebesmüh«, fand Afafrenfere und ging frühstücken.
Ambergris lächelte nur, ohne ihr Tun näher zu erklären. Im Gegensatz zu Afafrenfere kannte sie die wahre Bedeutung eines derartigen Zufluchtsorts. Als die Zitadelle Adbar sie damals als Spionin ins Schattenreich geschickt hatte, hatte Ambergris eine Brosche erhalten, die mit einem besonderen Zauber belegt war, einem magischen Verfahren, das sie von einem Augenblick auf den anderen an ihren zuvor festgelegten Zufluchtsort versetzen konnte.
Sie folgte Afafrenfere. An der Tür jedoch blieb sie noch einmal stehen, um die letzten Weihrauchschwaden zu betrachten, die noch in den Ecken ihres Zufluchtsortes hingen. Da erst wurde ihr bewusst, was diese Aktion für sie bedeutete. Bisher war ihr Zufluchtsort die Zitadelle Adbar gewesen, wo sie geboren war, und sie war nie auf die Idee gekommen, dies zu ändern.
Jetzt aber war es ihr einfach naheliegend erschienen.
Zufrieden atmete sie durch. Sie hatte einen neuen Zufluchtsort gefunden, weil sie eine neue Heimat gefunden hatte, und diese unerwartete neue Heimat war dadurch zustande gekommen, dass sie letztlich eine neue Familie gefunden hatte.
Sie hatte gar nicht lange über ihr Tun nachgedacht – in der gegenwärtigen Situation war es ihr wie eine pragmatische Vorgehensweise erschienen. Aber wenn sie jetzt das Zimmer ansah, verstand die Zwergin die tiefere Bedeutung, die zu dieser weitreichenden Handlung geführt hatte, die unbewussten Hoffnungen und die Gefühle dahinter. Behutsam schloss sie die Tür und folgte Afafrenfere mit federndem Schritt in die Wirtsstube.
Aus den Tagen wurde ein Monat, und es setzte Schneefall ein. Die Gefährten waren in Letzthafen geblieben. Immer wieder wagten sie sich vor die schützende Mauer, um Sahuagin zu jagen, und jedes Scharmützel erwies sich als kürzer als das vorherige, weil die Seeteufel bald gelernt hatten, dass ihre Verluste umso geringer waren, je schneller sie vor der mächtigen Truppe flohen.
Wichtiger jedoch war das, was hinter der improvisierten Mauer von Letzthafen ablief. Denn das Entscheidende, was Drizzt und seine Kameraden den bedrängten Bewohnern gebracht hatten, war ein Hoffnungsschimmer. In diesem neuen Licht konnten sich Dorwyllan und seine Leute neu gruppieren und die verfügbaren Kräfte zu schlagkräftigen Patrouillen formieren, die von Drizzt und dessen Freunden ausgebildet wurden. Häufig begleitete einer aus der Gruppe diese Patrouillen, wenn sie sich in gefährlichere Bereiche vorwagten.
Bei solchen Vorstößen gingen sie sehr vorsichtig vor. Für jede Patrouille wurde eine lückenlose Helferkette arrangiert, die bis zum bewohnten Teil der Stadt reichte.
Die Nacht in Letzthafen hatte viel zu lange den Sahuagin gehört, aber wer die Dunkelelfen kannte, kannte auch die Wahrheit. Inzwischen gehörte die Nacht dem Drow sowie denen, die ihm bereitwillig folgten.
»Diese Kämpfe zu gewinnen ist nur der erste Schritt«, erklärte Drizzt den Bewohnern bei einer Versammlung, zu der alle dreihundert gekommen waren. »Schwieriger wird es sein, Gebiete zurückzuerobern und zu halten.«
»Jenseits der Mauer ist das fast unmöglich«, rief jemand.
»Dann versetzt die Mauer«, schlug Artemis Entreri vor.
Drizzt musterte den Meuchelmörder verstohlen. Ihre Beziehung hatte sich in den vergangenen Zehntagen kaum verändert. Entreri blieb ein mürrischer Zyniker, der am liebsten alles kritisierte, was Drizzt hier auf die Beine stellen wollte. Aber die Taten des Mannes hinter dieser harten Schale sprachen eine andere Sprache. Er hatte Letzthafen nicht zugunsten einer gastlicheren Stadt verlassen, obwohl Niewinter auf seinem Nachtmahr leicht zu erreichen war. Außerdem zog er, ohne zu zögern, in die Schlacht – wenn auch manchmal nicht ohne Widerspruch. Vielleicht fand Artemis Entreri allmählich wirklich Gefallen an seiner neuen Rolle.
Andererseits lag er Drizzt wegen seines Dolchs in den Ohren und beharrte darauf, dass dies der einzige Grund für seine Gutmütigkeit sei. Ob Drizzt es nun glaubte oder nicht, ob es für Entreris Hilfsbereitschaft einen Grund gab, der über den greifbaren Gewinn hinausging, war letztlich unwesentlich, denn am nicht allzu fernen Ende stand der Weg nach Luskan zu einem gewissen Beniago.
Am Ende des zweiten Monats war der Bau der zweiten Mauer schon relativ weit fortgeschritten.
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