Niewinter 4: Die letzte Grenze
Letzthafen aufbrachen.
Aber trotz all meiner Hoffnungen und Ängste wurde mir die Wahrheit hinter dem stillen Ärger, der mich antrieb, erst wirklich bewusst, als der Treck mit Bauer Stuyles das Tor von Letzthafen erreichte.
Denn mein Handeln wird von dem Weg bestimmt, der vor mir liegt, nicht anders herum.
Wenn ich nicht nach Letzthafen gezogen wäre, um zu helfen, und mich nicht an das schwere Los von Bauer Stuyles und so vielen anderen erinnert hätte, dann hätte ich das verworfen, wonach mein Herz so deutlich verlangt. Es gibt keine schlimmere Fessel als die Selbsttäuschung. Wer sein Herz verleugnet, ob aus Angst vor persönlichen Konsequenzen, ob in Bezug auf körperliche Unversehrtheit oder aus Selbstzweifeln oder Angst, ausgestoßen zu werden, ist nicht frei. Gegen die eigenen Wertvorstellungen zu handeln, gegen alles, was man für wahr und richtig hält, erzeugt ein Gefängnis, dessen Stäbe härter sind als Adamant und dessen Mauern massiver sind als Stein. Jeder Augenblick, in dem man die Zweckdienlichkeit über den Aufschrei des Gewissens stellt, wirft eine neue schwere Kette aus, einen Anker, den wir ewig mit uns herumschleppen.
Vielleicht war es gar nicht so falsch, als ich mich für frei erklärte, nachdem der Letzte meiner Kameraden diese Welt verlassen hatte, aber ich hatte allenfalls ein Stück des Weges geschafft. Jetzt bin ich nur noch mir selbst verpflichtet, aber damit wird die Pflicht, dem zu folgen, was mein Herz mir rät, wichtiger denn je.
Also sage ich nun erneut: Ich bin frei. Und das sage ich voller Überzeugung, denn heute akzeptiere ich wieder bereitwillig, was in meinem Herzen steckt, und verstehe, dass diese Grundsätze die ehrlichsten Wegweiser für mich sind. Auch wenn sich hier und dort Grauschleier über die Welt senken, liegt das Gefühl für richtig und falsch für mich klar auf der Hand und war nie besonders verwaschen. Und wenn dieses Gefühl dem Wortlaut des Gesetzes widerspricht, dann zur Hölle mit dem Gesetz!
Noch nie bin ich meinen Weg so zielgerichtet gegangen wie auf meiner Suche nach Bauer Stuyles und seiner Bande. Und nie haben weniger Zweifel meine Schritte gebremst.
Es war das Richtige.
Mein Weg hat mir diese Gelegenheit geboten, und wer wäre ich, wenn ich mich diesem Ruf meines Herzens verschlossen hätte?
Das alles wusste ich, als ich neben Stuyles zum Tor von Letzthafen hinunterritt. Die Gesichter auf den Mauern und die aus dem Treck bestätigten mir, dass diese scheinbar so simple Lösung für die Probleme dieser beiden Gruppierungen richtig, gerecht und insgesamt das Beste war.
Mein Weg hatte mich hierhergeführt. Mein Herz hatte mir unterwegs die Fußstapfen von Drizzt Do’Urden gezeigt. Nachdem ich diesem Weg gefolgt bin, der dem Ruf meines Gewissens entsprach, kann ich jetzt mit Fug und Recht behaupten, dass ich frei bin.
Wie verblüfft ich war, dass die erste Bestätigung hierfür nicht der Jubel der Letzthafener war, auch nicht die allgemeine Erleichterung unter Stuyles’ Flüchtlingen, dass sie endlich ein Zuhause bekommen würden, sondern das leise Nicken und der anerkennende Blick von Artemis Entreri!
Er hat meinen Plan verstanden, und als Dahlia ihn öffentlich abwehrte, unterstützte er mich – warum, weiß ich nicht – mit seinem zustimmenden Nicken.
Ich müsste lügen, wenn ich so tun wollte, als hätte es mich nicht elektrisiert, dass Artemis Entreri mich auf dieser Reise begleitete. Ist er damit rehabilitiert? Schwerlich. Ich bleibe weiterhin auf der Hut. Aber er hat mir bewiesen, dass in seinem gebrochenen, vernarbten Herzen tatsächlich noch mehr steckt. Natürlich würde er nie zugeben, dass diese Lösung ihn selbst begeistert. Wie bei unserer Rückkehr von dem ersten Scharmützel mit den Sahuagin muss ich mich mit einem breiten Grinsen auf seiner ewig sauertöpfischen Miene zufriedengeben.
Aber sein Nicken hat mir etwas verraten.
Und dieses Etwas macht meine Entscheidungen umso wichtiger – immerhin habe ich Entreri in den Norden gelockt, als ich sein Angebot annahm, mir gegen Erzgo Alegni beizustehen, und mich sogar von ihm durch die Kanäle von Niewinter führen lassen. All das unterstreicht nur, was ich für richtig halte.
Ich treffe die richtige Wahl, weil ich in erster Linie meinem Gewissen folge und mich nicht länger von meinen Ängsten aus dem Konzept bringen lasse.
Deshalb bin ich frei.
Und gleichzeitig bin ich zufrieden, weil ich wieder daran glaube, dass der große Kreislauf der Zivilisation die Völker
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