Nigger Heaven - Roman
sich danach gleich dem tobenden, weihevollen Klang des Jazz oder der Spritituals hinzugeben, als ob sie dabei auf eine entfernte und biologische Weise den Rhythmus Afrikas fühlten.
Wilde! Im Grunde Wilde! Und sie selbst hatte ihre Wurzeln verloren oder verwirkt, diese Ursprünglichkeit, die so wertvoll und wichtig war, dass sie alle zivilisierten Völker nun zurückerobern wollten. Aus dieser Tatsache erklärte sich doch die Kunst von Picasso und Strawinsky. Natürlich fühlte auch sie diesen ursprünglichen Rhythmus – er erregte sie emotional vollkommen –, aber ihre Liebe für Getrommel, für aufpeitschenden Rhythmus, ihre naive Freude an leuchtenden Farben – Farben, die es nur in einem wolkenlosen, tropischen Klima gab –, diese warme Sexualität, all das wurde bei ihr durch den Verstand gefiltert. Olive ließ sich von ihren Gefühlen leiten, ebenso Howard, selbst Hester bis zu einem bestimmten Grad, und Adora war ganz von diesem leidenschaftlichen Urinstinkt erfüllt, was auch die eigentliche Ursache ihrer Anziehungskraft für Mary war. Warum, fragte sich Mary, ist mir das versagt?
Wir sind alle Wilde, wiederholte sie, alle, außer mir! Sie erinnerte sich, dass man ihr erzählt hatte, und ihr Verstand sagte ihr, dass es wahrscheinlich der Wahrheit entsprach, dass Schwarze nie planmäßig einen Mord begängen, sondern immer einem leidenschaftlichen Impuls folgten. Wenn man einem Mann entkam, der einen ermorden wollte, dann wurde diese Tat später wahrscheinlich nicht begangen, denn am nächsten Morgen war die Stimmung anders und die Tötungsabsicht vergessen. Noch nie hatte es nach der Auskunft ihres Informanten unter Schwarzen einen Giftmischer gegeben; sie bevorzugten schnellwirkende Waffen: Messer, Revolver, Rasiermesser.
Wenn sie sich nur endlich gehenlassen könnte, sich an Farbe, Lärm, Rhythmus und physischer Emotion berauschen und sich mit den anderen in das Gewühl stürzen und, bildlich gesprochen, brüllen und den Speer in die Luft schleudern könnte! Aber das wäre eben nicht ich, sagte sie sich. Wenn ich es gegen meine Natur täte, wäre es zwecklos. Ich muss ich selbst sein. Vielleicht erwacht dieser Instinkt irgendwann in mir.
Die Vorbereitungen für Olives Hochzeit schritten zügig voran. Olive, die so gut nähte wie sie kochte, verbrachte jetzt jede freie Minute damit. Sie fertigte eine Brautausstattung an, um die selbst sehr reiche Mädchen sie beneidet hätten: zarte Chiffon- und Leinenwäsche mit Stickereien, Spitzen, Bändern, Schleifen und Einsätzen, aber auch Kleider in allen Regenbogenfarben. Ihr Vater hatte ihr einen Scheck über einhundertfünfzig Dollar geschickt, um Material für ihre Ausstattung zu kaufen, und damit konnte man viel machen, wenn man es verstand, Reste zu finden und nach Sonderangeboten in den Kaufhäusern Ausschau zu halten.
Meist nähte sie bei Howards abendlichen Besuchen und unterhielt sich mit ihm, während sie Nadeln im Mund hatte und arbeitete. Manchmal musste er ihr helfen, ein dünnes Stück Stoff zu spannen, damit sie es mit der Schere teilen konnte. Dies endete natürlich mit einer Umarmung und einem leidenschaftlichen Kuss, dessen Zeugin Mary manchmal zufällig wurde. Nicht dass das Paar das gestört hätte – sie genierten sich nicht vor ihr –, aber es verstörte Mary, die mehr darin sah als das, was die beiden beabsichtigten oder vielleicht nur ahnten. Sie sah, dass Howard Olives Mann war und sie seine Frau. Es war mehr als eine Ehe; es war die Besiegelung einer ganz selbstverständlichen und ursprünglichen Verbindung. Sie würden kämpfen, selbst morden, um ihre Liebe zu bewahren. Diese Einsicht verstärkte noch das Gefühl ihres eigenen Mangels. Wie hatte sie im Lauf der Jahrhunderte diesen vitalen Instinkt verlieren können?
Ihre Erinnerung wandte sich ihrer Kindheit und ihren Eltern zu. Der Vater ihrer Mutter war ein freigelassener Sklave gewesen, dem man ein Stück Land gegeben hatte. Er hatte es so gut bewirtschaftet, dass er seine Tochter zur Fisk-Universität schicken konnte. Der Gedanke an ihren Vater rührte Mary unweigerlich zu Tränen. Er war für sie das Musterbeispiel eines vollkommenen Mannes: geradlinig, gut aussehend, groß, distinguiert, aufrichtig, gerecht und klug; Haltung und Aussehen entsprachen seinem Charakter. Er war aber auch sanft und zärtlich, und dennoch erinnerte sich Mary mit leichtem Entsetzen, wie allein schon die Lektüre eines Zeitungsartikels über einen besonders grauenhaften Lynchmord in Georgia ihn
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