Nigger Heaven - Roman
in eine solche Wut versetzt hatte, dass er seinen Revolver packte, um aus dem Haus zu stürzen und den erstbesten Weißen, der ihm über den Weg lief, abzuknallen. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter, ebenfalls völlig außer sich, ihn mit größter Mühe, mit allen Mitteln der Überredung und sogar unter dem Einsatz ihrer bescheidenen körperlichen Kraft, von seinem Vorsatz abgebracht hatte. Er war geblieben. Der Revolver fiel aus seiner schlaffen Hand, und der geduldige, resignierte Ausdruck, den Mary so gut kannte, kehrte in seine Augen zurück. Mary war damals erst fünf Jahre alt, aber sie erinnerte sich immer noch an den qualvollen Tonfall, mit dem ihre Mutter sie angefleht hatte, zu Bett zu gehen, und an ihr aschgraues Gesicht, als sie, erschöpft nach ihrem gelungenen Kampf, in einen Sessel sank. Sie hatten diesen Vorfall danach nie wieder erwähnt, aber Mary konnte ihn nie vergessen.
Ihr Vater war in einer Kleinstadt des Mittleren Westens aufgewachsen und hatte weiße Schulen besucht, zuerst die öffentlichen Schulen des Ortes und später die Universität des Staates. Schon früh in seinem Leben hatte ihn das brennende Verlangen erfüllt, etwas für seine unglückselige Rasse zu tun. Später wurde dieses Ideal zur einer Leidenschaft, so dass er, nachdem er als Rechtsanwalt genügend Geld verdient hatte, um seiner Familie ein angenehmes Leben und seiner Tochter eine gute Erziehung zu gewährleisten, möglichst jede freie Minute damit verbrachte, vor einem weißen Publikum Vorträge über das Rassenproblem zu halten oder aber junge Farbige von Fleiß und Ehrgeiz zu überzeugen.
Mary betete ihren Vater an, und sie war stolz und froh, als er in einem Brief einen seiner seltenen Besuche in New York ankündigte. Er kam an einem Morgen Anfang Oktober an. Mary konnte ihn nicht vom Bahnhof abholen, da sie in der Bücherei keine Vertretung fand. Mr Love hatte deshalb sein Gepäck zu seinem Gastgeber Aaron Sumner gebracht und dann seine Tochter an ihrem Arbeitsplatz besucht.
»Daddy, mein Lieber!«, begrüßte Mary ihn.
Er küsste sie zärtlich; sie standen einander sehr nah. Mary betrachtete ihn – sie wurde nie müde, ihn zu bewundern. Er war groß, hellbraun und mit kurzen, grauen Löckchen und einem grauen Schnurrbart. Er hatte eine Adlernase und hohe, schönmodellierte Wangenknochen. Mary nannte ihn manchmal im Scherz ihren Othello, weil er ganz so aussah, wie sie sich einen Mauren vorstellte. Und konnte er denn nicht tatsächlich einer sein? Die alten Sklavenhändler waren nicht besonders wählerisch bei ihrem Menschenraub entlang der afrikanischen Küste. Ein Sklave war ein Sklave, und ein hellhäutiger brachte so viel Geld ein wie ein schwarzer. Nicht nur Neger der verschiedensten afrikanischen Stämme wurden verschleppt, sondern auch Araber, Ägypter, Mauren und sogar Spanier und Portugiesen wurden in den Sklavenschiffen zusammengepfercht. In Amerika mischten sich diese seltsam unterschiedlichen Rassen und zeugten Kinder; dazu kam später häufig noch französisches, spanisches, englisches und indianisches Blut. Das Resultat bezeichnete man, ohne jede Rücksicht auf die Mischung, in diesem aufgeklärten Land als Neger und betrachtete es mit dem gleichen Vorurteil wie einen vollblütigen Afrikaner.
»Wie geht es Mutter?«, fragte Mary. Sie saßen in einem kleinen Zimmer neben dem Lesesaal.
»Ausgezeichnet, und sie ist ganz neidisch auf mich, weil sie dich doch auch so gern gesehen hätte.«
»Warum hast du sie denn nicht mitgebracht, Daddy?«
»Weil die Reise lang und kostspielig ist und ich auch nur ein paar Tage hier sein kann. Ich hatte als Entschuldigung meinen Vortrag in Newark. Hoffentlich kommst du uns nächsten Sommer besuchen.«
Am Abend war Mary zum Essen bei den Sumners eingeladen. Sie besuchte sie immer mit großem Vergnügen; ihr Haus war so angenehm und gemütlich eingerichtet, ohne luxuriös oder künstlerisch ambitioniert zu sein. Man versank tief in den Polstersesseln und Diwans; die Perserteppiche waren dick und weich unter den Füßen; die Glühbirnen befanden sich unter mattfarbenen Schirmen, und die Bücherreihen und einige Bilder machten die Räume sehr wohnlich. Mr Sumner war der Sohn wohlhabender Eltern aus Georgia und hatte die Frisk-Universität besucht, wo er in seinem letzten Studienjahr das Glück gehabt hatte, einen jungen Weißen aus dem Norden kennenzulernen, der sich die schwarze Institution näher ansah, weil er der Universität eine beträchtliche Summe zukommen
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